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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

mag ihnen hier und da als ein alter Schlauch erscheinen, für den ein neuer dringend noth thäte, aber der Inhalt des Schlauches – das Christenthum – ist ein so kostbarer, unschätzbarer Saft, der seit nun beinahe zwei Jahrtausenden die Menschheit erquickt hat und noch Jahrtausende erquicken wird; und was wir sind und haben, hat in ihm seine Wurzel und Kraft, wie alle Organe des Leibes in dem Blute, das sie speist – es darf von diesem kostbaren Blutsaft kein Tropfen verloren gehen, geschweige denn das Ganze, wie wir fürchten müssen, wenn wir es aus dem alten Schlauch in einen neuen umfüllen wollten. Darum lassen wir es bei dem alten und bekennen uns als Christen, gleichviel, ob wir mit einem oder dem anderen Glaubenssatze in unserer Vernunft fertig werden können; oder ob dieser oder jener Heißsporn der Kirche um dieses einen oder anderen Satzes willen seine Vernunft zu Tode hetzt und die unsere gleichfalls zu Tode hetzen möchte. Es ist damit wie im politischen Leben, wo wir auch je zuweilen auf den Ausdruck unserer Ueberzeugung verzichten oder unser besseres Wissen dem schlechteren der Partei unterordnen, um diese zu erhalten, die im Ganzen und als Ganzes doch klüger, besser und zumal mächtiger ist als wir, Ich darf so reden, denn ich habe in meinem Leben um meiner Ueberzeugung willen viel gelitten, habe bis auf den heutigen Tag darunter zu leiden, und wer weiß, was noch über mich verhängt ist! Nun ziehen Sie – Sie sind klug genug dazu – für sich die Konsequenzen aus dem, was ich gesagt habe. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.“

Er machte eine Bewegung in seinem Stuhle; die Unterredung sollte zu Ende sein; ich erhob mich. Er war ebenfalls aufgestanden und reichte mir die Hand. Ich dankte ihm mit zitternder Stimme für seine Güte und ging nach der Thür, als er mich beim Namen rief. Ich wandte mich. Er stand noch an seinem Stuhl, den großen Kopf, um den das krause Haar in widerspänstigen Locken nach allen Richtungen starrte, tief gesenkt; das wunderliche Gesicht, welches ein sogenannter Zimmermannsbart einrahmte, in nachdenkliche Falten verzerrt; den Zeigefinger der Linken fest gegen den Bügel der Brille drückend, welche durchaus nicht mehr auf der kleinen Nase halten zu wollen schien.

„Im Falle Sie sich nicht sollten entschließen können –“

Er machte eine Pause, ob ich etwas antworten würde, und fuhr, da dies nicht geschah, fort:

„In diesm Falle müßten wir auf einen Ausweg denken, wie Sie wenigstens nicht mit dem Gesetz in Konflikt kommen. Ist ihr Vater vielleicht Mitglied der Freien Gemeinde?“

„Ich weiß es nicht, Herr Professor.“

„Ich halte es nicht für unmöglich. Ich liebe, offen gestanden, die Freien Gemeinden nicht. Sie gedeihen nicht, Was nicht gedeiht, beweist schon dadurch, daß es nicht aus einer machtvollen Idee hervorgeht. Gleichviel, es wäre ein Ausweg. – Uebrigens für den äußersten Fall, von dem ich wünsche und hoffe, daß er nicht eintritt. Eine gesetzliche Nöthigung, daß evangelische Eltern ihre Kinder konfirmiren lassen und dazu eventuell zwangsweise anzuhalten sind, liegt nicht vor. Ich weiß das zufällig aus einer Debatte über den fraglichen Punkt im Gustav-Adolf-Verein, dessen Mitglied ich bin.“

„Ich danke Ihnen, Herr Professor.“

„Und noch eines. Was Sie auch beschließen sollten – ich weiß, daß Sie etwas auf mich geben – Sie werden in meinen Augen nicht einbüßen.“

„Ich danke Ihnen von Herzen, Herr Professor.“

„Ein Letztes!“

Er war an mich herangetreten, legte mir die Hand auf die Schulter und sagte mit einer Stimme, die anders – weicher und weniger zuversichtlich klang, als die, in welcher er bisher gesprochen:

„Es liegt mir auch an Ihrer Achtung. Und wenn Sie als ein reifer Mann an diese Stunde denken, wie Sie zweifellos thun werden, und ich dann ebenso zweifellos todt bin – und Sie dann in meinen Worten deutlicher lesen werden, als Sie es jetzt im Stande sind – dann lassen Sie mir Gerechtigkeit widerfahren und denken und sagen Sie: er konnte nicht anders sprechen.“

Er ließ die Hand von meiner Schulter und hatte sich schnell von mir gewandt. Ich murmelte noch einmal meinen Dank und Gute Nacht und eilte hinaus.


10.

Als ich auf die Gasse trat, schlug es von dem Thurme der Nikolaikirche, an der ich vorüber mußte, gerade neun. Ein heftiger Wind, der, vom Meere her, durch die Stadt brauste, zerriß die Töne, daß einzelne wie mit Gewalt zu mir herabfielen, andere fast klanglos nach oben flogen. Wirres Gewölk, dessen Ränder der unsichtbare Mond hier und da nit schmutzigem Roth färbte, jagte über den Thurm, von dem jetzt, als ich dicht unter ihm hinschritt, das mißtönende Gekreisch eines Uhus erscholl, in das sich das Krächzen vom Sturm aus ihren Ruheplätzen aufgescheuchter Dohlen mischte.

Ich starrte und horchte hinauf und es durchschauerte mich bis ins Mark von der eisigen Luft, die um den Thurm pfiff, und von einer entsetzlichen Empfindung, die mich wie ein Schwindel jäh befiel. Es war mir aber, als stünde ich oben auf dem Thurme, wie neulich mit dem Mallen Heinrich, aber allein in der wilden Sturmesnacht, und die Teufel rissen sich nicht um die Glockentöne, sondern um meine arme Seele und rissen ganze Stücke ab und flögen damit kreischend und krächzend hinaus in die wilde Nacht.

Und wie Jemand, der von einem Abgrund zurückprallt, in welchen ihn die nächste Sekunde stürzen würde, eilte ich weiter mit gesträubtem Haar und wildbewegtem Herzen, dessen Klopfen ich bis in die Kehle fühlte. Dann war es vorbei. Das Grausen wich von mir; ich knöpfte den dünnen Rock, den ich in meiner Angst aufgerissen hatte, wieder zu und drückte mir die Mütze fest in die Stirn.

Nein! es war nichts damit: ein Spuk nur für den, der sich fürchtet. Der Malle Heinrich neulich da oben hatte, wie sehnsüchtig er auch durch die Thurmritze starrte, keine Engel gesehen, aus dem einfachen Grunde, weil es keine gab. Gab es aber keine Engel, so gab es auch keine Teufel, die sich um meine Seele stritten; und meine Seele flatterte nicht da oben in der Luft, sondern war hier in meinem Kopf und in meinem Herzen. Und wenn ich es nicht begreifen konnte, so war es nicht meine Schuld – ich konnte doch mit keinem anderen Kopfe denken, als mit meinem eigenen. Und wenn mein Herz so unruhig hin und her zuckte, so war es, weil sie es nicht zur Ruhe kommen ließen, weil sie alle an ihm rissen: der Pastor mit seiner fanatischen Wuth und der Professor mit seiner weltweisen Güte. Denn überzeugt hatte auch er mich nicht, das fühlte ich ganz klar. Und wenn ich ihm folgte, so that ich es doch wieder nicht aus Ueberzeugung. Und eine Ueberzeugung, wie er sie meinte, von der man ein Stück preisgab und ein anderes zurückbehielt – das war ja ebenso schlimm wie die arme Seele, von der die Teufel so viel abrissen, als sie ergattern konnten. Gab es denn keinen Menschen, dessen Kopf mit dem Herzen im Frieden war? in dessen Seele die Ruhe war, nach der mich doch so innig verlangte?

Auf einmal, als fiele es mir wie Schuppen von den Augen, stand das Bild des guten Vaters hell vor mir da. Wie hatte ich nur einen Augenblick schwanken können, an wen ich mich wenden sollte in meiner Noth! Ihn hätte ich fragen sollen, ihn allein; ihn, aus dessen Munde keine Lüge ging und keine halbe Wahrheit, in dessen Seele immer stiller Friede war, und der so oft durch sein sanftes Wort, ja nur durch den Blick seiner treuen Augen die Unrast und Verstörtheit meines Herzens zur Ruhe gebracht hatte!

Und wie ein Kind, das zum Schoß der Mutter flüchtet, lief ich durch die menschenleeren Gassen zu ihm, der nicht mein Vater war und der mir doch Vater und Mutter gewesen von meinen Kindesbeinen an.

Er wartete auf mich in der Werkstatt mit dem Abendbrot. Seitdem die Mutter nicht mehr mit uns speiste, nahmen wir unsere frugalen Mahlzeiten oft in der Werkstatt ein, zumal an Tagen, wo es den Vater mit der Arbeit pressirte. Das war auch heute der Fall gewesen. Ein Sarg, der morgen in der Frühe abgeliefert werden mußte, hatte fertig werden sollen. Und da war er fertig und stand mitten in der Werkstatt auf der Drehscheibe, auf welcher der Vater immer die einzelnen Stücke zum Ganzen zusammenfügte: groß und gelb mit kräftigen gedrechselten Knäufen und feiner kunstvoller Täfelung, besonders sorgfältig ausgeführt, wie ich auf den ersten meiner durch lange Uebung geschärften Blicke sah.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 63. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_063.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2024)