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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

jedes Haupt-, ja fast jedes Nebenthal, beleben sie sich im allerheiternden Sonnenscheine und täuschen sie, so grau und farblos sie auch sein mögen, von der Spitze eines Hügels aus gesehen, dem Auge nicht selten die Bläue tiefer Gebirgsseen vor. Und wenn dann die Sonne auf ihren spiegelnden Wellen blitzt und flimmert, oder wenn um die Mitternachtszeit auch sie von rosigem Hauche berührt werden, treten sie als so lebendige Lichter aus dem sie umgebenden Düster hervor, daß das Auge gern auf ihnen weilen mag.

Weit großartigere, wenn auch noch immer düstere und eintönige Landschaftsbilder rollt die Hochtundra dem Blicke des Wanderers aus. Jedes wirkliche Gebirge schmückt sich auch hier mit allen Reizen der Höhe. Die Berge steigen fast immer steil empor, und die Ketten, welche sie bilden, zeigen reich bewegte Linien; das schneeige Dach, welches sie deckt, vereist überall, wo die Verhältnisse es gestatten, zu Gletschern. Wirkliche Tundra bildet sich nur da, wo das Wasser nicht raschen Abfluß findet; das ganze übrige Gelände scheint von dem der Tiefe so verschieden zu sein, daß nur die hier wie in der Höhe im Wesentlichen gleiche Pflanzendecke die Tundra verbürgt. Das unten in der Tiefe mit dicken Schichten abgestorbener Pflanzenreste übertorfte Geröll tritt hier fast überall zu Tage: endlose, aus riesigen Blöcken zusammengesetzte Halden überlagern die Gehänge und erfüllen die Thäler; Geröll bildet den Untergrund weiter, beinahe ebener Flächen, über welche der Fuß des Wanderers auch aus dem Grunde zögernd schreitet, als hier selbst dem tiefblickenden Forscher Räthsel aufgegeben werden hinsichtlich der Gewalten, welche die Blöcke über weitere Flächen mit fast unabänderlicher Gleichmäßigkeit vertheilten. Dazwischen aber sickert und gleitet, rieselt und fluthet, strömt und rauscht, braust und donnert überall das Wasser der Tiefe entgegen. Von den Gehängen herab rinnt es in tropfenden Fädchen, gesammelten Adern, murmelnden Bächlein; aus den Thoren der Gletscher hervor bricht es in milchigen Bächen; in die Wasserbecken strömt es in trüben Flüßchen; den klärenden Seen entfließt es in krystallhellen Flüssen, und wirbelnd und schäumend, zischend und tobend eilt es weiter thalabwärts, einen Sturz und Tobel an den andern reihend, bis es die Tieftundra, einen Strom oder das Meer erreicht hat. Die Sonne aber übergießt auch diese so eigenartige Gebirgswelt, so oft sie durch die Wolken bricht, mit ihren Zauberfarben, trennt und scheidet Berge und Thäler, beleuchtet jedes Schneefeld, bringt jeden Gletscher, aber auch jede Schlucht zur Geltung und Wirkung, läßt jede Spitze, jeden Grat, jede Wand deutlich hervortreten, jeden See als klares, freundlich blickendes Bergesauge strahlen, legt um die Morgen- und Abendstunden den blauen Duft der Ferne als zarten Schleier über den Hintergrund des Bildes und überfluthet um Mitternacht mit ihren tiefsten Strahlen das Ganze, bis es förmlich aufleuchtet in rosigem Lichte. Gewiß, selbst die Tundra ist nicht aller Reize bar.

An einzelnen, obschon nur sehr wenigen Stellen greift auch die Pflanzenwelt gestaltend und verschönernd ein. Fichten und Föhren blieben entweder im Süden zurück oder finden sich nur in den geschütztesten Thälern. Selbst die hier und da noch auftretenden Föhren, welche aussehen, als ob eine Riesenfaust sie am Wipfel gepackt und schraubenförmig um und um gedreht habe, können in den höheren Lagen der Tundra nicht gedeihen. Auch die Birken, welche weiter vordringen als jene, kümmern und krüppeln, daß sie greisenhaften Zwergen gleichen. Einzig und allein die Lärche behauptet hier und da das Feld und wächst zu wirklichen Bäumen empor; aber auch sie kann nicht mehr als Charakterpflanze der Tundra bezeichnet werden. Als solche stellt sich vor allen anderen die Zwergbirke dar. Sie, welche nur auf ganz besonders günstigem Boden Meterhöhe erreicht, herrscht im weitaus größten Theile der Tundra so unbedingt vor, daß die übrigen Sträuche und Sträuchlein nur zwischen sie als eingesprengt erscheinen. Sie überzieht alle Strecken, auf denen sie Wurzel fassen kann, vom Ufer des Sees oder Flusses an bis zu den Gipfeln der Berge hinauf mit einer mehr oder minder dichten Decke von so gleichmäßiger Höhe, daß weite Strecken aussehen, als ob sie oben mit einer Scheere abgeschnitten worden wären; sie tritt nur da zurück, wo der Boden so von Wasser getränkt ist, daß er zum Bruche, Sumpfe oder Moraste wurde; sie verkümmert einzig und allein da, wo fettiger, in der Sonne leicht erhärtender Lehm oder unfruchtbarer Kies die Höhen deckt; sie ringt aber noch mit dem über alle Tiefen verbreiteten Wassermoose wie mit der alle Höhen deckenden Renthierflechte um die Herrschaft. Viele Geviertkilometer neben oder nach einander werden so dicht von ihr übersponnen, um nicht zu sagen überfilzt, daß nur das unvertilgliche Wassermoos neben, beziehentlich unter ihr sein Anrecht auf den Boden noch zu behaupten wagt, wogegen an anderen, minder feuchten Stellen Zwergbirke, Lorbeerweide und Rosmarinheide gemischte Bestände bilden. Ebenso mischen sich oft verschiedene Beerengesträuche, insbesondere Moos-, Preisel-, Rausch- und Sumpfheidelbeere, ein.

Wird der Boden, indem er unter die umgebenden Flächen sich einsenkt, sehr naß, so gelangt nach und nach das Wassermoos zur Uebermacht, verdrängt allmählich die Zwergbirke gänzlich und bildet nun große, schwellende Polster, welche in Folge der raschen Vertorfung ihrer abgestorbenen Wurzeltheile fortwährend höher werden und ebenso weiter sich ausbreiten, bis endlich das Wasser ihr ferneres Vordringen hemmt oder die Polster zu kaupenartigen Hügeln zerreißt.

Ist die Einsenkung sehr flach, so bildet das in ihr zusammengeströmte Wasser nur ausnahmsweise einen See oder Teich, meist nicht einmal einen Pfuhl, durchsickert vielmehr den Boden bis zu unbestimmter Tiefe und erschafft so einen Morast, dessen dünne, wenn auch zähe, aus den verwobenen Wurzeln des Riedgrases bestehende Decke gefahrlos nur das breithufige Ren zu beschreiten wagen darf, obgleich sie auch bei dessen Schritten wie Gallerte schwankt und zittert oder unter den Kufen des von Renthieren gezogenen Schlittens tief sich einsenkt.

Neigt sich die Einsattelung zu einer kurzen, nicht ausgehenden Mulde, fließt in ihr, und sei es noch so langsam, ein Wässerchen, so geht solcher Morast unabänderlich in Sumpf und weiter unten in Bruch über. In ersterem gelangt das Ried, in letzterem die Wollweide, eine zweite Charakterpflanze der Tundra, zu üppigem Wachsthum. Obwohl nur im günstigsten Falle Manneshöhe erreichend, bildet diese Pflanze doch Dickichte, welche im buchstäblichen Sinne des Wortes undurchdringlich sein können. Mehr noch als bei den Legföhren des Hochgebirges verschlingen sich ihre Aeste und Wurzeln zu einem selbst dem Auge unentwirrbaren Ganzen, welches man am richtigsten einen aus allen Bestandtheilen der Weide verwobenen Filz nennen möchte. Es hält den kräftigsten Arm zurück, welcher es bis zu Pfadbreite zur Seite drängen möchte, und bereitet dem Fuße so viele Hemmnisse, daß auch der beharrlichste Mann bald von dem Versuche, es zu durchdringen, absteht und sogar dann zurückkehrt, wenn der Boden nicht, wie gewöhnlich, Morast ist oder eine kaum unterbrochene Reihe von versumpften schlammigen Lachen, deren Ergründlichkeit man ungern prüfen möchte, zwischen den Gebüschen sich einsenkt.

Durchreist man die Tundra, so erkennt man, daß das ganze Gebiet in ununterbrochenem Wechsel und ewig sich gleichbleibender Wiederholung die geschilderten Einzeltheile vor das Auge bringt. Einzig und allein da, wo ein großer wasserreicher Fluß die Tieftundra durchströmt, können die Verhältnisse sich ändern. Ein solcher Fluß legt zeitweilig von ihm herbeigeschleppte Sandmassen auf Bänken bloß; der fast beständig und meist heftig wehende Wind thürmt diese allmählich am Ufer zu Dünen auf, und ein der Tundra fremder Boden ist geschaffen. Auf den Dünenhügeln erwächst sogar in Sibiriens Tundren die Lärche noch zu stattlichen Bäumen und kann dann im Vereine mit Weiden- und Zwergerlengebüschen zum Schmucke der Landschaft werden. Ja, es kann sogar geschehen, daß sie in der Nähe kleiner Seen zu Gruppen zusammentritt und mit den letztgenannten Gebüschen Naturparke bildet, welche auch in reicheren und lebensvolleren Gegenden nicht unbeachtet bleiben würden, hier aber so außerordentlich wirken, daß sie einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen.

Unter dem Schutze der Lärchen siedeln sich überall da, wo letztere auf Dünen wurzeln, auch andere hochstämmige Pflanzen an: spitzblättrige Weiden, Ebereschen, Faulbaum- und Geisblattgebüsche z. B.; und ebenso entsprießen dem Sande mancherlei Blumen, welche man weit im Süden zurückgeblieben wähnte. Hier leuchtet dem überraschten Südländer die rothe Blüthenpracht des Weiderichs entgegen; hier klammert die liebliche Haiderose ihre dünnen Zweiglein dicht an die mütterliche Erde, sie mit jenen und ihren Blumen schmückend; hier lacht das freundliche Vergißmeinnicht heimathlich entgegen; hier finden Nießwurz und Schnittlauch, Baldrian und Thymian, Nelke und Glockenblume, Vogelwicke und Alpenerbse,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 50. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_050.jpg&oldid=- (Version vom 16.1.2024)