Seite:Die Gartenlaube (1886) 043.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

auf eine schlechte Stelle im Brett gestoßen sein, die er jetzt prüfend betrachtet, während der Hobel ruht.

Es ist lautlos still in dem kleinen Hause.

Und in der lautlosen Stille hebt ein Singen an, leise und süß wie Aeolsharfenklang, und ach! so klagend, so schmerzlich klagend! so sehnsuchtsvoll, so voll schmerzlicher Sehnsucht!

Ich lausche dem süßen leisen Gesang, der die Stille nur noch stiller zu machen scheint.

Und wie ich so lausche, quillt es auch in meinem jungen Busen auf von Klage und Sehnsucht — Klage um mich, der ich hier einsam sitze; Sehnsucht nach ihr, die einsam sein will, nichts von der Liebe ihres Kindes wissen will, das doch sie so grenzenlos liebt!

Meine starren Augen werden feucht. Ich drücke das Gesicht in die Hände und weine heiße Thränen auf den Aufsatz über „Die Freuden der Jugend.“


6.

Nicht Zufall ist es, wenn ich in diesen Aufzeichnungen jetzt erst ausführlich auf sie zu sprechen komme, der in der Herzensgeschichte eines jeden gutgearteten Menschen der erste Platz gebührt. Ich bin um dies Kapitel herumgeschlichen, wie ich oft um ihr Zimmer schlich; und habe jetzt wieder gezögert, die Feder dazu anzusetzen, wie ich immer erst mein Herzklopfen überwinden mußte, bevor ich zögernden Fingers an ihre Thür pochte. O dreimal glückselig ihr, die ihr eine Mutter habt, die euch liebt, und wenn sie bös auf euch ist und euch schilt (wie ihr es gewiß verdient), euch erst recht liebt! Und habt ihr sie nicht mehr, die hehre Göttin eurer Kinderzeit, die liebereiche, helfende, rettende, tröstende, beste Freundin eurer spätern Jahre — glückselig auch dann, die ihr das Höchste doch einmal besaßt und nun zu ihm aufschaut als zu dem strahlenden Leitstern für den Rest eures Lebens!

Meine Mutter, ach! sie hat mich nie gescholten, aber sie hat mich auch nie geküßt. Ihr wißt ja nicht, was Furchtbares in dem Worte liegt für ihn, der es von sich sagen muß. Das heißt, eine Pflanze sein, die nie ein Sonnenstrahl traf; das heißt, als ein Krüppel geboren sein; das heißt, kein glückliches Kind gewesen sein, kein fröhlicher Knabe; das heißt, die Anwartschaft erhalten haben auf ein Leben jenseit der Schranken, innerhalb deren es sich gut wohnen und friedliche Hütten bauen läßt!

Betrat ich dann aber auf ihr leises Herein! das Zimmer, so sah sie mich, von ihrer Stickerei oder ihrem Buche aufblickend, an, nicht eigentlich unwillig, aber gewiß auch nicht gütig, sondern mit jener fürchterlichen höflichen Gleichgültigkeit, die dem, welcher liebevoll und nach Liebe sich sehnend herantritt, das Herz zuschnürt, auf ihn fällt, wie Mehlthau auf eine junge Pflanze. Auch hatte ich längst die traurige Klugheit gelernt, mir die Beschämung, abgewiesen zu sein, dadurch vor mir selbst zu verschleiern, daß ich nie kam außer mit einem bestimmten Auftrage, etwa vom Vater, oder unter einem Vorwande, den ich mir vorher sorgfältig ausgedacht und einstudirt hatte, um ihn möglichst unbefangen vorbringen zu können. Hatte ich dann mein Gewerbe ausgerichtet, nickte sie mir zu — wiederum mit jener grausam gleichgültigen Höflichkeit — und warf ich noch einen scheuen Blick zurück, bevor ich die Thür schloß, sah ich sie bereits wieder über ihre Stickerei oder ihr Buch gebeugt. Selten, sehr selten, daß sie dann noch einmal die Augen hob und mit ihrer leisen Stimme fragte: „Möchtest Du noch etwas, Lothar?“ und ich mit einem gestammelten: „Nein, Mama! Doch nicht, Mama!“ mich eilig hinausdrückte.

„Nein Mama! Doch nicht, Mama!“ — Großer Gott, ich wußte ja, daß sie das, wonach meine Seele schrie, nicht gewähren konnte oder wollte!

Warum nicht?

Ich zermarterte mein Gehirn nach diesem fürchterlichen Warum. Ich flehte Gott an in heißen Gebeten, er möge mir es offenbaren. Aber mein Gehirn fand keine Antwort und mein Flehen keine Erhörung. Oder das, was mir auf Stunden und Tage eine Antwort, eine Lösung des Räthsels schien, mußte ich doch bald wieder kopfschüttelnd als unzutreffend oder unzugänglich aufgeben und fahren lassen. Ich hatte mir dann vielleicht einreden wollen, ich sei ein böser wilder Knabe, an dem eine Mutter kein Wohlgefallen haben könne. Aber die Hopp’schen Rangen waren noch viel böser und wilder, und wurden doch von ihrer Mutter gescholten und geküßt nach Herzenslust. Oder vielleicht war ich häßlich, und häßliche Kinder wurden von ihren Müttern nicht geküßt; zum Beispiel Emil: ich hatte nie gesehen, daß er von seiner Mutter geküßt wurde. Das hielt, soviel ich mich erinnere, eine geraume Zeit vor. Dann fragte ich einmal Emil, während mir die Wangen brannten und die Kehle mir wie zugeschnürt war — so ganz aus dem Stegreif: ob ihn seine Mutter manchmal küsse? und der gute Emil erwiderte unbefangen: ja, oft! So war es auch damit nichts: ich mochte nicht schön sein; aber so häßlich wie Emil war ich sicher nicht.

Freilich, wie konnte es mir auch beikommen, meine Mutter und ihr Thun und Lassen nach anderen Müttern und ihrem Thun und Lassen beurtheilen zu wollen? Ist doch, oder sollte doch jedem Kinde seine Mutter eine Gottheit sein, die keine anderen Gottheiten neben sich hat; und meine Mutter war ein so besonderes Wesen, daß sie mir nichts ihr Aehnliches, geschweige denn ihresgleichen zu haben schien. Alle Göttinnen des griechischen Olymp, dessen Glanz jetzt zum erstenmale die verwunderten Knabenaugen traf — mochte es nun die stolze Hexe sein, oder die strenge Pallas, oder die holdlächelnde Kypris — sie erschienen mir wohl in besonderen Gewanden und mit verschiedenem Ausdruck, aber im Grunde waren es doch nur ein wenig veränderte Abbilder meiner Mutter. Und hörte oder las ich in der Geschichte von einer hohen Frau, welche die Herzen der Männer entflammt und ihren Muth zu kühnen Thaten begeistert — so war es wiederum meine Mutter. Und die Dichter mochten ihre Herzensköniginnen mit braunen oder blonden Locken schmücken, aus dunkeln oder blauen Augen schmachten lassen — es war und blieb immer meine Mutter.

Wie wäre es auch anders möglich gewesen! hatte ich doch in Wirklichkeit keine schönere Frau gesehen; und wenn das für meine kleine Welt von damals nicht viel bedeuten will — die große Welt, so weit ich sie kennen lernte, — hat mir eine schönere nicht gezeigt.

Keine wenigstens, deren Züge von Liebreiz so — darf ich sagen: durchsüßt gewesen wären? — es klingt läppisch — ich fühle es wohl — und doch weiß ich kein anderes Wort, den Zauber wiederzugeben, der von diesem Antlitz ausging. Es hätte, trotzdem sich in dem dunkeln Haar schon einzelne silberne Fäden zeigten, das eines bildschönen Mädchens sein können, welches eben zur Jungfrau heranreift, und deren Herzensreinheit noch von keinem leisesten Anhauch dieser Welt getrübt ist, — wären die Augen nicht gewesen. Sie und sie allein schienen gelebt und — erlebt zu haben; sie und sie allein schienen zu wissen, daß es eine böse Welt gibt, auf die man nur mit trüber Gleichgültigkeit oder bitterer Verachtung blicken soll. Und eine andere Welt, zu der man aufschauen darf in flammender Begeisterung, in gluthvoller Liebe, in brünstiger Sehnsucht. Ich hatte wenigstens den Abglanz dieser Gluth gesehen, ein- oder zweimal, als ich trotz meiner gewöhnlichen Vorsicht allzuschnell in ihr Zimmer trat, und sie, von dem Betschemel, auf welchem sie gekniet hatte, sich erhebend, mir gegenüber stand mit jenen Augen, vor welchen eben die Glorie der Himmel aufgethan gewesen war und über die nun rasch der dichte Schleier fiel, den Kindesliebe nicht zu lüften vermochte.

Ich wußte jetzt, daß meine Mutter Katholikin war. Es gab sehr wenige Katholiken in unserer streng protestantischen Stadt, so wenige, daß sie kein eigenes Gotteshaus hatten, sondern sich mit einem kleinen Betsaal, der möglichst zu einer Kapelle umgeschaffen war, begnügen mußten.

Den Gottesdienst und die Seelsorge in der kleinen Gemeinde leitete ein Geistlicher, den innerer Drang oder oberer Befehl muthig oder doch standhaft auf diesem verlorenen Posten ausharren ließ. Er war selbstverständlich auch der Beichtiger meiner Mutter und kam, deucht mir, jetzt öfter als sonst zu ihr, immer in der Abenddämmerung, wo er dann, dunkel und lautlos, wie der Schatten der Nacht, durch das stille Haus die schmale steile Treppe hinaufhuschte. Doch war ich ihm auch ein und das andere Mal draußen begegnet und hatte mit scheuen Augen auf ihn geblickt: ein bereits älterer Mann, – so erschien er mir, obgleich er noch in den Dreißigern stand, — der den langen dürren Leib bis an den mit einem schmalen weißen Streifen umgebenen Hals in den schwarzen Rock geknöpft hatte, unter welchem eben nur ein wenig von den schwarzwollenen Strümpfen und den

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 43. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_043.jpg&oldid=- (Version vom 15.1.2024)