Seite:Die Gartenlaube (1886) 036.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1886)


fähiger Politiker war, den Kaiser mitunter an die demselben geleisteten Dienste zu erinnern, wie nicht minder, ihn mit Vorstellungen inbetreff kaiserlicher Herrscherwürde und kaiserlicher Herrscherpflichten zu langweilen. Solche Vermessenheit bewies denn doch klärlich, daß der General ein höchst gefährlicher Mensch war, der höchst wahrscheinlich mit Verschwörungsplänen sich trug. Also hinab mit ihm zur Unterwelt und die aufdringliche Frau Ennia, welche unsere kaiserliche Majestät an angebliche Versprechungen zu mahnen sich erdreistet, soll ihm auf dem Wege dahin Gesellschaft leisten!

(Fortsetzung folgt.)

Ueber unbewußtes Zählen.

Von W. Preyer.
II.

Auch im Gebiete anderer Sinne zeigt sich die Richtigkeit der in der vorigen Nummer ausgesprochenen Schlußfolgerung.

Zwar hält es sehr schwer, beim gleichzeitigen Berühren einer Hautstelle mit mehreren Nadelspitzen oder kleinen Erhabenheiten zu unterscheiden, ob 4 oder 5 Berührungen stattfinden – weil die Erfahrung außer bei Blinden darüber fehlt –, aber erstaunlich fein ist das Vermögen des unbewußten Zählens beim Hören, besonders in der Musik ausgebildet.

Wenn zwei Töne gleichzeitig oder schnell nach einander erklingen, so hat man entweder ein Gefühl der Befriedigung über das Zusammenklingen – dann bilden die Töne einen Wohlklang (eine Konsonanz) – oder ein Gefühl der Unbefriedignug – dann bilden sie einen Mißklang (eine Dissonanz). Im ersteren Falle ist stets das Verhältniß der beiden Töne ein einfaches und durch kleine Zahlen ausgedrückt. Das Verhältniß der Anzahl der Schwingungen, welche sie in der Luft und im Ohre in gleichen Zeiten bewirken, ist bei dem vollkommenen Wohlklang der Oktave 1 zu 2, bei der Quinte 2 zu 3, bei der Quarte 3 zu 4, bei der großen Terz 4 zu 5, bei der großen Sexte, 3 zu 5, bei der kleinen Terz 5 zu 6 und bei der am wenigsten befriedigenden Konsonanz der kleinen Sexte 5 zu 8. Alle anderen Tonverhältnisse innerhalb der Oktave sind dissonant, so namentlich die Intervalle 15 zu 16 und 24 zu 25, der sogenannte große und kleine halbe Ton, auch die große Septime 8 zu 15. Woher diese auffallende Verschiedenheit?

Wenn man bedenkt, daß außerhalb des Ohres in der Luft die tonerzeugenden Schwingungen sich durch ihre Geschwindigkeit und Stärke von einander unterscheiden, so daß die kleinen und schnellen Schwingungen leise hohe Töne geben, die großen schnellen laute hohe, die kleinen langsameren leise tiefe, endlich die großen langsamen laute tiefe Töne hervorbringen, dann erscheint es natürlich anzunehmen, daß die im inneren Ohre vorhandenen elastischen Theilchen an den äußersten Enden der Hör-Nervenfasern abgestimmt seien und in ebenso viele Schwingungen gerathen wie die schallende Luft und das Trommelfell, und zwar wie diese stark und schwach. Jedem Ton entspricht eine Faser, welche allein am stärksten mitschwingt, wenn er erklingt. Eine solche Ansicht hat sehr scharfsinnig Helmholtz begründet. Wenn nun im Ohre eine große Anzahl von Nervenenden (nach den Zählungen guter Beobachter jedenfalls mehr als 16 000, wahrscheinlich über 20 000) wie die Tasten des Klaviers neben einander ausgebreitet sind und jeder Faser ein Ton entspricht, so erscheint es wohl annehmbar, daß man beim Hören der Töne, welche um gleichviel von einander abstehende Fasern in Thätigkeit setzen, ein anderes Gefühl, und zwar ein befriedigenderes habe, als wenn sie ohne Rücksicht auf die Anzahl der zwischenliegenden unerregten Nervenfaserenden durch einander erklingen. Wenn also z. B. ein Ton von 64 Schwingungen in der Sekunde, ein tiefes C, ertönt und mit ihm oder sogleich nach ihm das angestrichene mit 128 Schwingungen, so wird dieses Tonpaar vor allen anderen mit dem C gebildeten ausgezeichnet sein dadurch, daß der Ton, vom Anfang der Tastatur im Ohr an gerechnet, gerade so viel unerregte Nervenenden unter sich hat, wie bis zum zweiten Ton über ihm liegen.

Diese Gleichheit des Abstandes kann sehr wohl eine Befriedigung gewähren, wie Jeder sie beim Hören der Oktave hat und wie sie in ähnlicher Weise beim Sehen eines Kreises auftritt. Die Kreislinie zeichnet sich ja dadurch aus, daß jeder Punkt in ihr vom Mittelpunkt die gleiche Entfernung hat. Auch im Auge sind die lichtempfindlichen Enden des Sehnerven für die Beurtheilung der Schönheit einer Figur unerläßlich, auch da wird der Abstand zweier Punkte durch die Anzahl der zwischenliegenden Nervenenden unbewußt geschätzt, und auch da bewirken gewisse Verhältnisse eine größere Befriedigung als andere, z. B. das Quadrat, das gleichseitige Dreieck eine größere als das Trapez oder das ungleichseitige Dreieck. Es kommt bei der Beurtheilung der Schönheit eines Gebäudes, eines Schrankes, einer Landschaft, eines Gesichtes vor allen Dingen auf das Verhältniß der einzelnen Theile zu einander an, auf die Dimensionen. Sowie dieses Verhältniß in einem Punkte erheblich gestört ist, nähert sich das Ganze der Karikatur oder der Mißgeburt und ist häßlich. Immer kommt es auf die Abstände der einzelnen Punkte, der Grenzen, der Linien von einander im Gesehenen an, das heißt auf die Schätzung der Anzahl der zwischen ihren Bildern auf der Netzhaut des Auges befindlichen Nervenelemente.

Wie bei dem bewußten Taxiren ist natürlich auch bei diesem ganz unbewußten erblichen, schon in der Jugend ausgebildeten Zählvermögen die Schätzung der Verhältnisse 1 : 2 und 1 : 11/2, auch 1 : 11/4, viel leichter als die Schätzung der Verhältnisse 1 : 1/7 und 1 : 11/9 oder 1 : 11/11. Ich meine: dasselbe muß für das Gehör gelten. Erstere Zahlen entsprechen angenehmen, letztere unaugenehmen Tonpaaren. Erstere sind leicht zu verstehen, letztere unverständlich. Das Unverständliche hat immer etwas Unlusterregendes an sich.

Wenn daher zwei Töne erklingen, von denen der eine die 100., der andere die 170. Faser vom Anfang der Klaviatur an gerechnet trifft, so wird man, meine ich, deßhalb unbefriedigt von dem Intervall sein, weil man nicht den Abstand von 7/10 der ersten Strecke genau beurtheilen kann, während die 100. und 125. und 150. Faser, wenn sie zusammenschwingen, die Beurtheilung von 1/4 und 1/2 der ersten Strecke verlangen und eine große Befriedigung gewähren, entsprechend dem Wohlklang des Akkords c e g. der in Zahlen durch 1 : 11/4 : 11/2 ausgedrückt wird.

Aehnlich alle anderen Konsonanzen und Dissonanzen. Sowie die Verhältnisse der Schwingungszablen der beiden Töne (die zugleich oder nach einander erklingen) und damit die der Mengen der im Ohre zwischen den entsprechenden Hör-Nerventasten liegenden ruhenden Tasten (Stäbchenzellen) verwickelt sind, nicht mehr durch kleine ganze Zahlen (1, 2, 3, 4, 5) ausgedrückt werden können, lassen sich die Unterschiede der beiden Strecken (vom Nullpunkt bis zur Taste des ersten Tons und von dieser bis zur Taste des zweiten Tons) und das Verhältniß der Anzahl der Nervenfaserenden beider Strecken zu einander nicht mehr leicht beurtheilen, daher die Unbefriedignng, welche alle Dissonanzen geben.

Für die Oktave ist die Schätzung am leichtesten, weil die ganze Strecke vom Anfang bis zum ersten (tieferen) Ton gleich ist der von diesem zum zweiten (höheren); sie heiße 1; für die Quinte ist sie dann 1/2, da 2 : 3 = 1 : 11/2, für die Quarte 1/3, da 3 : 4 = 1 : 11/3, für die große Terz 1/4, da 4 : 5 = 1 : 11/4. Die Abstände der unvollkommenen Konsonanzen sind aber etwas schwieriger zu schätzen, nämlich die Bruchtheile 1/5, 2/3, 3/5 des ersten Abstandes und vollends die aller Dissonanzen noch viel schwieriger zu erkennen, weil sie kleineren Bruchtheilen entsprechen.

In der Musik zählt man nur bis 5.

Schwierige Rechenexempel sind dem Kopfrechner unangenehm, während leichte ihm Vergnügen bereiten. Dem Künstler geht es ebenso. Ihm ist ist das Kopfrechnen unbewußt. Von Schwingungszahlen, Nervenfaserenden, Abständen der Stäbchenzellen weiß der Musiker nichts, wenn er innerlich die herrlichsten Akkorde hörend seine Symphonie komponirt. Auch der Maler und Architekt, der Bildhauer und Kupferstecher wissen nichts von den vielen hunderttausend Sehnervenfaserendigungen im Auge, nichts von der Kraft und Zahl der Aetherschwingungen des Lichts und zählen doch unbewußt die mikroskopischen Entfernungen des einen Mosaikfeldchens der Netzhaut vom anderen mit einer Genauigkeit, die den übrigen Sterblichen wunderbar erscheint, weil sie es nicht können und nicht verstehen.

Der große Denker Leibniz hatte Recht, als er im Jahre 1712 mit einer merkwürdigen Vorahnung künftiger Forschungsergebnisse schrieb: „Die Musik ist ein verborgenes Rechnen des Geistes, welcher nicht weiß, daß er zählt. Denn er thut Vieles mit unklaren oder unmerklichen Perceptionen, was er in deutlicher Apperception nicht wahrnehmen kann. Die irren, welche meinen, es geschehe nichts in der Seele, dessen sie selbst nicht bewußt sei. Obwohl also die Seele nicht fühlt, daß sie zählt, fühlt sie doch das Ergebniß dieser unmerklichen Zählung, das heißt das aus ihr fließende Vergnügen bei den Konsonanzen, Mißvergnügen bei den Dissonanzen. Denn aus vielen unmerklichen Uebereinstimmungen entsteht das Vergnügen.“

In ähnlichem Sinne hatte sich auch der jugendliche Descartes schon 1618 und gerade ein Jahrhundert später der Mathematiker Euler ausgesprochen. Aber keiner, auch unter den Forschern der Gegenwart keiner, dachte daran, daß es höchst wahrscheinlich beim unbewußten Zählen die Endigungen der Nervenfasern sind, deren Anzahl geschätzt wird. Alles Andere, was außerdem beim Hören in Betracht kommt, namentlich die Schwebungen der Obertöne und die Differenztöne, obwohl sehr wesentlich, kann doch nicht von solcher Wichtigkeit für die Unterscheidung der Konsonanzen von den Dissonanzen sein, weil diese auch beim Nacheinandererklingen der zwei Töne sofort vom musikalischen Ohre unterschieden werden, Schwebungen und Differenztöne und Rauhigkeit aber nur beim gleichzeitigen Erklingen zweier Töne entstehen. Sie erleichtern jenes schnelle Zählen.

Auch beim Schätzen der Entfernung zweier nach einander berührter Hautstellen von einander kommt es auf das unbewußte Zählen der zwischen ihnen liegenden Hautnervenendigungen an, wie beim Sehen zweier nach einander aufblitzender Sterne von gleicher Farbe, Größe und Lichtstärke an verschiedenen Orten auf das unbewußte Zählen der zwischen ihren Bildern, im Augenhintergrunde liegenden unerregten Netzhautelemente. Andernfalls würde man den zweiten Stern an derselben Stelle wie den ersten sehen. Nur Blinde, welche mit den tastenden Fingerspitzen zählen gelernt haben, bringen es aber dahin, mit diesen 3 von 4 und 5 kleinen erhabenen Stellen einer Fläche ebenso sicher ohne bewußtes Zählen zu unterscheiden, wie Sehende durch einen einzigen Blick.

Es ließe sich ein ganzes Buch über das im praktischen Leben in mannigfaltiger Weise sich bethätigende unbewußte Zählen schreiben. Doch werden die besprochenen Fälle schon genügen, um seine Bedeutung erkennen zu lassen.

Jena, im December 1885.


Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 36. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_036.jpg&oldid=- (Version vom 13.1.2024)