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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

und ich noch immer nicht müde wurde, ihr freundliches Gesicht zu betrachten. Ja, wenn ich überhaupt nur die traute Gemüthlichkeit beschreiben könnte! Dieses weite, nicht allzu hohe Zimmer, die schneeigen Vorhänge der Fenster, die weißgescheuerten Dielen; in der Mitte des Raumes der Tisch mit dem feinen selbstgesponnenen Damast und den altmodigen Tellern und Schüsseln; die Schrankuhr an der Wand, der solide Mahagonischreibsekretär und der große gelbliche Kachelofen, der so lustig bollernd in der Ecke stand, neben sich den Sorgenstuhl. Dazu die zierlich behende Frau mit dem herzensguten Gesicht und den blauen Augen, die heute so oft in Thränen glänzten. Und wie behutsam der Riese mit seiner kleinen Mutter umging, als sei sie ein Kind, und wie die Mutter stolz auf den „Einzigen“ blickte, wenn er durch das Zimmer schritt, oder wenn er gelassener Weise in ihr rasches Reden eingriff! Alle Befangenheit schien hier, wo er Herr im Hause, von ihm genommen, es umgab ihn plötzlich eine Art von Würde, die sein junges Antlitz eigenthümlich gut kleidete. Er saß oben an dem Ehrenplatz des Tisches und zerlegte bedächtig den Wildbraten, und vorher stand er hinter seinem Stuhl und sprach ein kurzes Tischgebet. Ihm zur Seite hatten die beiden alten Damen Platz genommen und Lotte und ich schlossen den Kreis. Lotte saß noch immer stumm, und ihre Blicke flogen hin und her zwischen Mutter und Sohn.

„Das sieht man, Frau von Werthern,“ meinte unsere freundliche Wirthin, „daß die lieben Mädelchen nur Halbschwestern sind; sie gleichen sich nicht eine Spur.“

„Eine Familienähnlichkeit ist doch wohl vorhanden,“ erwiderte die Großmutter, die es immer peinlich berührte, wenn die Rede auf unsere so verschiedene Persönlichkeit kam.

„Auch nicht die Spur!“ erklärte Fritz Roden und that einen durstigen Zug aus seinem Glase. „Ich glaube, es würde eine Unmöglichkeit sein, sie herauszufinden; die Eine der Damen ist zudem blond, die Andere brünett.“ – Dann hob er das Glas und stand auf. „Möge es den Damen gefallen,“ sagte er einfach, „zuerst in meinem Hause, sodann in ihrer netten Heimath überhaupt. Es ist nicht schlechter hier, als anderswo, es wohnen allerwärts Menschen mit guten Herzen, und die Sonne scheint über unser kleines Rotenberg ebenso golden, wie über Berlins Häusermeer. Ja, die Luft ist schöner hier, denn sie weht über Wald und Feld ehe sie in unsere Straßen dringt. Und der Schnee ist hier weißer und reiner als in der Großstadt, und mich dünkt, auch die Rosen blühen hier schöner und frischer. Mein Spruch ist der: Möchten Ihnen Allen hier die Rosen des Friedens und der Behaglichkeit blühen. Was wir, meine Mutter und ich, dazu beitragen können, das thun wir sicher und aus aufrichtigem Herzen.“

Er stieß der Reihe nach mit uns an. Als er zu Lotten kam, flog wieder jenes leise Lächeln um ihren vollen kleinen Mund; er schien es aber nicht zu bemerken. Frau Roden hatte Großmutters Hände ergriffen und versicherte mit feuchten Augen, daß sie Alles, Alles aufbieteu würde, um es uns in Rotenberg gemüthlich zu machen.

„Kennen Sie Berlin näher?“ fragte plötzlich Lotte den jungen Mann. Es war das erste Wort, das sie sprach, und unwillkürlich erstaunte die alte Dame vor der schwingenden klangvollen Mädchenstimme.

„Ich habe dort mein Jahr abgedient,“ erwiderte er.

„Bei welchem Regiment?“ examinirte sie.

„Bei dem Xten Garderegiment.“

„Bei Hansens Regiment?“ rief Lotte freudig.

„Ich kenne Ihren Herrn Bruder,“ bestätigte er und sah prüfend zu der Großmutter hinüber, als fürchte er, sie zu verletzen.

„Er war wohl ihr Vorgesetzter und Sie standen vermuthlich bei seiner Kompagnie?“ sagte Lotte und spielte mit dem silbernen Theelöffel auf ihrem Kompotteller.

„Es stimmt beinah,“ erwiderte er lächelnd. „Er war eben Fähndrich geworden.“

„Hans hat uns schweren Kummer bereitet,“ begann die Großmutter plötzlich, „er hat seine Schwestern an den Rand der Armuth gebracht und seinen Vater in das Grab. Mein Sohn hatte ihn auf einen Bremer Lloyddampfer geleitet und kam krank vor Aufregung und Kummer zurück nach Berlin. – Am folgenden Tage machte ein Herzschlag seinem Leben ein Ende.“

Es ward unheimlich still nach diesen Worten im Zimmer, nur unterbrochen durch das Klirren des Löffels, den Lotte heftig auf den Teller fallen ließ.

„Eine harte Beschuldigung!“ sagte Fritz Roden endlich.

„Aber eine gerechte!“ erwiderte die alte Frau. „Er war ein Spieler.“

Lotte fuhr empor, wie ein verwundetes Reh, und ihre großen Augen füllten sich mit funkelnden Thränen.

„Davon weiß ich nichts,“ sagte Fritz Roden. „Ich weiß nur, daß er sein letztes Geld einem armen Soldaten gab, der nach Hause reiste, um die Mutter zu begraben, und daß er sich blindlings in die Spree stürzte, um irgend eine lebensmüde Person zu retten.“ Er sah plötzlich zu Lotte hinüber, und da traf ihn ein Blick, so dankerfüllt, so heiß, daß er verlegen inne hielt und in sein Glas blickte.

„Ja, das that Hans!“ rief sie, „und ich weiß noch viel mehr solcher Züge von ihm. Aber das Ungewöhnliche, das, was nicht dem alltäglichen Schlendrian entspricht, das gilt heute für verwerflich, verachtenswerth! Hans war ein Mensch, der –“

„Der sehr leichtsinnig war,“ vollendete die Großmutter gelassen. „Gerade diese Züge, die Du betonst, bekunden einen Mangel jeden Ernstes, jeder reiflichen Erwägung. Es giebt ein Sprichwort: ‚Allzugut ist liederlich!‘“

Lotte schwieg, aber sie sah zu dem jungen Mann hinüber, als erwarte sie Hilfe. und als er stumm verharrte und nur leise und wie zustimmend das Haupt neigte, kam wieder ihr verächtliches Lächeln; sie lehnte sich in den Stuhl zurück, legte den Kopf an die hohe Lehne und betrachtete angelegentlich das braune geschnitzte Balkenwerk der Decke. Frau Roden aber suchte eifrig nach allerhand Trostgründen und führte ein Beispiel nach dem anderen an, in denen verlorne Söhne gebessert zurückgekehrt waren. Und so ging das Gespräch in der traurigen Bahn weiter, bis die Wanduhr zehn laute summende Töne hören ließ und gleich darauf draußen eine Thurmuhr ihr nachfolgte.

Sogleich erhob sich meine Großmutter; es wurden Lichter auf blitzblanken Messingleuchtern gebracht, und wir gingen durch den kühlen großen Hausflur, in dem es so eigen nach frischer Milch roch, die breite Treppe in das obere Gestock hinauf. Bis hierher gab uns auch Fritz Roden das Geleit, wünschte noch einmal alles Glück für den Rotenberger Aufenthalt und eine gute Nacht. Dann pfiff er seinem Jagdhund, der während des ganzen Abends neben ihm gelegen, und schritt aus der Hausthür.

„Er revidirt noch einmal, ob Alles wohl versorgt zur Nacht,“ erklärte die Mutter stolz. „Als mein Mann starb und er die Domaine übernahm, hatte ich begreiflicherweise Sorge, wie es werden würde; aber, so jung er noch war damals, es geht Alles genau so, wie bei dem Seligen, so schick und ruhig und glatt. Das Einzige, was ihm fehlt, ist eine Frau, denn ich kann zuweilen nicht mehr so recht, wie ich wollte. Aber – nun bitte, hier links Frau Räthin!“

Wir waren über einen großen Vorsaal geschritten, auf dem mächtige Schränke breit und behäbig standen, und betraten nun die Logirstube, in der hochgethürmte blüthenweiße Betten unseren reisemüden Gliedern freundlich winkten. Auch hier prasselndes Holzfeuer im Kachelofen gegen die Herbstkühle, und ein feiner Lavendelduft; auch hier so traut und gemüthlich, wie unten im Wohnzimmer. Großmutter sollte nebenan im einfensterigen Zimmerchen wohnen. Und als unsere freundliche Wirthin noch tausend Fragen gethan, ob und wie wir zu liegen gewohnt seien? ob wir morgen früh Milch oder Kaffee wünschten? versprach sie, gleich früh mit uns die Wohnung zu besichtigen, die ganz in der Nähe – denn darauf hätte sie besonders Werth gelegt. Und die Zimmer wären sehr hübsch; es seien ehemals fürstliche Gemächer gewesen. Das Gebäude, das Kavalierhaus geheißen, habe ein Regierender gebaut, ein prachtliebender Herr der lustigen Rokokozeit, welcher eine solche Menge von Gästen herzog, daß die Zimmer des Schlosses nicht ausreichten. Es liege diesem gerade gegenüber, und in der oberen Etage habe das kleine Quartier freigestanden; nur alte Akten hätten darin gelegen. Und der Fritz habe gleich schreiben müssen, ob das Logis nicht zu vermiethen sei und richtig, man habe es gestattet, und der Ertrag komme der Kleinkinderbewahranstalt zugute, die die Frau Herzogin hier ins Leben gerufen. Ja, so habe sich das gemacht; und freilich, die Tapeten seien

alt, aber die schöne Fußbodentäfelung sei ganz deutlich wieder

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 31. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_031.jpg&oldid=- (Version vom 11.6.2020)