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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Originalzeichnung von Rudolf Cronau.

Die Nadeln.[1]

An Englands Grenze ragen
Drei Felsen aus dem Meer,
Man nennet sie „die Nadeln“
Von alten Zeiten her.

Wie manche schöne Hoffnung
Sah’n sie vorüber zieh’n,
Wie viele tief Betrübte
Dem Heimathland entflieh’n!

O Herz, du sollst nicht zagen,
Fährst du vorüber hier;
Ist Meer zu deinen Fußen,
Ist Himmel über dir!


  1. Die „Nadeln“ (needles) sind die äußersten Kreideklippen der Insel Wight, dem deutschen Auswanderer der letzte Scheidegruß, wohingegen sie dem von Amerika Kommenden den ersten Willkommgruß Europas bieten.

Die Andere.

Von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)


Ich trat ans Fenster und suchte nach allen möglichen Gründen, die für Charlottens Worte eine Entschuldigung sein könnten, und ich fand nur einen. Sie war allzusehr verzogen, allzusehr verwöhnt worden, von mir, von dem Vater, von der Großmutter und zuletzt von der Gesellschaft. Ja freilich, wir trugen die Schuld! – Hand aufs Herz, Tone, wenn Dir alle Welt so zu Füßen gelegen wie der schönen Schwester, wenn Dir jeder Wunsch erfüllt worden wäre, bevor Du ihn noch ausgesprochen, was wäre aus Dir geworden? Hättest Du die Flügel so still zusammengelegt wie jetzt? Und kämst Du Dir schon so alt vor, so vernünftig und so fertig mit dem, was die Welt zu bieten vermag? Es war mir freilich auch nicht leicht geworden, so „vernünftig“ zu werden, war ich doch ebenso lebensfreudig wie sie und hätte auch so gern gefallen im lichthellen Ballsaal; aber da tönte mir das Wort in die Ohren: „die Andere“.

Die schöne Werthern und „die Andere“ hießen wir. Ich hörte mich einst im Gespräch so nennen von einem Paar Lippen, deren Lachen und Plaudern ich so gern gelauscht, fast zu gern. „Die Andere“ – und welch ein Ton dazu! Und dann bemerkte einmal eine junge Frau hinter mir, daß die „Andere“ sich auch just so anzieht wie ihre schöne Schwester; „haben Sie je etwas Ungleichartigeres gesehen, wie die Wertherns?[“]

Ich habe an jenem Abend in meinem stillen Zimmer ewig lange vor dem Spiegel gestanden und habe mir gelobt, nie wieder Balltoilette zu machen, und die „Andere“ hat es gehalten. Es war, als ob dies Wort meine Selbsterkenntniß erst geweckt hätte – oder mein Mißtrauen? Ich fand, daß der Vater, die Großmutter, Hans, selbst die Dienstleute mich als die „Andere“ betrachteten. Lotte, Lotte und immer zuerst Lotte, und ich fand, daß ich unbewußt ganz ebenso mit ihr gethan.

Wie traurig war ich damals, und wie schnell überwand ich doch Alles und fand mich, kraft meiner natürlichen Anlagen, in die Stelle der Hausmutter und der guten allzeit bereiten Rathgeberin, und wie nöthig ward es bald! Manchmal zwar kam heiß die alte thörichte Sehnsucht nach Lebensfreuden und nach Glück über mich, dann ließ ich Wirthschaft und Stopfekorb und grub die thränenden Augen in die Kissen meines Bettes. Und wenn ich mich wieder ausgeweint, so ward es mir leicht, das Prinzeßchen zum Ball zu putzen und die Zügel der Wirthschaft wieder fest zu halten. Und immer ruhiger und zufriedener wurde ich – bis das Unglück kam; der Vater todt, der Bruder fort ins Elend und wir – mittellos, ganz mittellos, sobald die hochbetagte Frau die Augen schloß. Wie bang, wie öde dehnte sich die Zukunft vor mir! So stand ich am Fenster in jener Mondnacht und sah in

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 29. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_029.jpg&oldid=- (Version vom 13.1.2024)