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verschwundenen „Nikotin-Theater“ angetreten, nur in den Tingel-Tangels, wo schöngebaute Spanierinnen den „noch nie von einer Dame gesehenen Luftsprung“ ausführen und dressirte Seehunde Proben ihrer hoben Bildungsfähigkeit ablegen, wird der aromatische Tabaknebel geduldet. Die Rauchtheater, in welchen seiner Zeit Sensationsstücke vom Schlage des „Geschundenen Raubritter“ und „Hirsch in der Tanzstunde“ hundertmal und öfter vor einem stimmungsvollen Auditorium über die Bühne gezerrt wurden, waren eine Berliner Specialität.

Es ging so gemüthlich zu in diesen Hallen. Theaterdirektor und Bierwirth waren gewöhnlich in einer Person vereinigt, weil sonst ihre Interessen leicht kollidirt hätten. Es soll vorgekommen sein, daß ein rücksichtsloser Wirth durch die unzeitgemäße Verbreitung der Kunde, es sei soeben „frisch angestochen“, die Bühnenwirkung der herrlichsten Dichterwerke grausam zerstörte, weil Alles schleunigst das Büffett aufsuchte, wo die frische Quelle rieselte. In einem dieser Theater hatte man noch vor zwei Jahren die Chance, auf sein Billett eine Pendüle zu gewinnen, es war dies dasselbe Theater, in welchem ich einmal eine „Große Atlas-Programm-Festvorstellung“ angekündigt fand, – der Theaterzettel war nämlich an diesem Abend auf Atlas gedruckt. In einem andern den Musen geweihten Hause gab man den „Lumpensammler von Paris“, zum Schlusse wurde ein „Riesensprung durch den Saal“ versprochen; diese Auswüchse am Baume des Theaterwesens sind verschwunden, und die Theateratmosphäre ist in den letzten 10 Jahren in dankenswerther Weise gereinigt worden.

Erst im December und gar im Januar schwillt die Hochfluth der Koncerte mächtig an, die Kreuzzüge der Virtuosen nach der „heiligen Kunststadt“ beginnen. Nach einer ungefähren Berechnung sollen auf jeden Berliner in der Saison ein halbes Dutzend Symphonien, fünf Geigen- und zwei Cello-Soli entfallen, von den Klavierkoncerten gar nicht zu reden. Die Klaviermanufaktur – in des Wortes eigentlicher Bedeutung – blüht ja in Berlin, die Klavierarbeit wird am Ende noch besser bezahlt als jede andere weibliche Handarbeit. Neben der Hochschule für Musik bestehen noch drei oder vier Klavier-Lehrinstitute ersten Ranges, Kullak an der Spitze mit vielen hundert weiblichen Schülerinnen, die sich zum allergrößten Theil wieder dem Lehrfach widmen. Das ist der Fluch der bösen That …

Der größte und vornehmste Theil unserer Koncerte findet im Saale der Sing-Akademie statt. Es ist dies ein Raum von beispielloser Nüchternheit, und es herrscht da immer eine Stimmung wie im Wartezimmer eines vielbeschäftigten Arztes. Alles nimmt still und mit einer gewissen Feierlichkeit Platz, und vergeblich sucht das Auge in dem kahlen Raum einen gefälligen Ruhepunkt. Ich habe die größte Hochachtung vor dem Ernst, dem tiefen Verständniß, mit dem diese Versammlung die Musik, die hier erklingt, in sich aufnimmt. Freilich, es giebt auch unter den andächtigen Zuhörern in der Sing-Akademie Heuchler, nichtsnutzige Tartüffes, die wahrscheinlich gezwungenermaßen das Koncert besuchen und denen der harte Klappstuhl noch härter erscheint, die durch eine ausdrucksvolle Rhetorik ihrer Gliedmaßen das brennende Verlangen nach Erlösung unwillkürlich verrathen und mit der Hand bald die zufallenden Augen, bald den weit geöffneten Mund bedecken müssen. Ja es giebt unter diesen angeblichen Verehrern seriöser Kammermusik Verworfene, denen das „Komm herab o Madonna Theresa …“ aus der neuesten Operette über alle A-moll und C-dur Sonaten der Welt geht.

Auch im Koncerthaus, der Stätte der ehemaligen Bilse-Koncerte, schwingt wieder ein Veranstalter populärer Koncerte den Taktstock, und der Saal ist allabendlich dichtgefüllt. Die Zuhörer sitzen eng an einander gefügt, wie die Feigen in der Kiste, und nur der aalglatten Gewandtheit der Kellner, die ihre Körperverhältnisse allen Umständen anzupassen wissen, ist es zu danken, wenn Hunger und Durst nicht in bedenklicherem Grade überhand nehmen. Es gewährt einen eigenthümlichen Anblick, wenn man während der C-moll Symphonie Beethovens ringsherum Gänseklein, Hühnerfrikassee, ja sogar Klappstullen mit duftendem Harzer Käse verzehren sieht; ein unerschütterlicher Ernst drückt sich in den rhythmischen Kaubewegungen aus und geräuschlos gleiten Gabel und Messer durch Schnitzel und Koteletten, so geräuschlos wie die stählernen und hölzernen langen und kurzen Nadeln in den Händen der Damen, die dem Herkommen gemäß unter Mannsfeldt ebenso wie unter „Bilse“ die weibliche Tugend des Fleißes bewahren und, der Musik lauschend, endlose Tischläufer, zierliche Theeservietten, warme wollene Capuchons und Schlummerrollen entstehen lassen. Einmal hieß es, am Donnerstag weile die Liebe, die poetische Milchschwester der Musik, im Saale, Verlobungsabende nannte man diese Koncerte schlechtweg. Dieser Abend gehört der Jugend und ihren Beschützerinnen. „Die Mädchen“ – meint der weise Montesquieu – „sind von selber hinlänglich zur Ehe geneigt, die Jünglinge nur bedürfen der Aufmunterung“ – und die Musik, die nach Shakespeare „der Liebe Nahrung“ ist, auch die einfachste, wirkt mäichtig auf die Sinne; – ich brauche die Thatsache nicht durch den Hinweis auf kriegerische Fanfaren und Kampfgesänge zu belegen, – bei den Klängen eines schwärmerischen Liedes, eines Wiener Walzers schmilzt die Herzensrinde selbst desjenigen, der sich, wie fast jeder von uns, vorgenommen hatte, als Hagestolz zu sterben.

Ich müßte auch noch von den Vereinen sprechen, die für das winterliche Leben in der Großstadt nicht ohne Bedeutung sind. Die Vereinsmeierei liegt den Deutschen nun einmal im Blute, es ist eine oft bestätigte Erfahrung: „Wenn man in Deutschland irgend etwas nett findet, so entsteht daraus ein Verein“. – Ungefähr 800 Vereine weist das Berliner Adreßbuch nach, und dabei ist eine Menge kleinerer Gesellschaften, Klubs etc. noch gar nicht angemeldet. Es kommen bei dieser Gelegenheit natürlich nur die geselligen Vereine in Betracht, obwohl auch die „Tage“, Berathungen und Sitzungen der politischen, gelehrten und ungelehrten Fachvereine in das öffentliche und das Familienleben eingreifen. Unter den geselligen Vereinen nehmen die humoristischen einen hervorragenden Platz ein, und dann die Theatervereine, deren Wirksamkeit von den Vorstadttheatern übrigens wohl gefühlt wird. Die humoristischen Gesellschaften, die den „Ulk“ auf ihre Fahne geschrieben haben, sind über ganz Berlin verbreitet; sie legen sich die räthselhaftesten Namen bei, z. B. „Blaue Zwiebel“, „Grüne Brille“, „Lustiger Spund“, „Dampfwalze“; verständlicher sind die Bezeichnungen „Eulenspiegel“, „Humor“ etc. Der Zweck der Rauchklubs, die auch recht bezeichnende Titel führen, z. B. „Gemüthlicher Qualm“, „Fidibus“, „Weichselrohr“, ist mir nicht recht klar. Das Rauchen ist am Ende doch kein geselliges Vergnügen? – Unübersehbar ist die Menge der Vereine „Ehemaliger“: Da giebt es, „ehemalige Kameraden des zweiten Garderegiments zu Fuß“ – „ehemalige Schwedter Dragoner, Husaren, Ulanen“ etc., ehemalige Frequentanten dieser oder jener Lehranstalt, und man hat bereits die Gründung eines „Vereins ehemaliger Vereinsmitglieder“ vorgeschlagen.

Die meisten dieser Vereine, die in den Wintermonaten mit ihren Sitzungen und Zusammenkünften so wichtig thun und das Gute haben, daß sie dem Ehrgeiz zahlreicher organisatorischer, gesellig hochbegabter, rhetorisch gewandter Menschen ein Feld zur Bethätigung eröffnen, sind, wenn wir ganz ehrlich sein wollen, in vielen Fällen doch nur auf den ewigen „Dorscht“, das germanische Nationalleiden zurückzuführen, und sie bezwecken nicht viel mehr, als einen Vorwand zum gemeinsamen Zechen.

Mithin schlägt das Vereinsleben des Berliner Winters in das Gebiet des Kneipenwesens, das leider den Ruhm des deutschen Familienlebens recht gründlich zu erschüttern beginnt. So unvollständig diese nur in großen Zügen entworfene Liste der Berliner Wintervergnügungen ist, so wird sie doch bewiesen haben, daß in der deutschen Reichshauptstadt, wo man so ausdauernd und emsig zu arbeiten weiß, auch dem Vergnügen sein Recht wird.




Blätter und Blüthen.

Murillo’s Betteljungen. (Mit Illustrationen Seite 12 und 13.) Zu den größten Schätzen der Münchener Pinakothek gehören bekanntlich die fünf Kindergruppen Murillo’s, von denen wir hier die beiden berühmtesten in Holzschnitt-Nachbildung wiedergeben, da sie zugleich auch für den Entwickelungsgang des Künstlers selbst am bezeichnendsten sind. Ist doch das Leben dieses größten aller spanischen Maler neben dem Correggio’s eines der eigenthümlichsten Räthsel der Kunstgeschichte. Zunächst durch die allen Traditionen widersprechende Art seiner Ausbildung, denn außer einem zweijährigen Aufenthalt in Madrid hat er seine Vaterstadt Sevilla, wo er am 1. Januar 1618 geboren oder doch getauft ward, nie auf länger verlassen, mußte sich also ganz selbständig ausbilden, da sein Meister Juan de Castillo weit unter ihm stand. Wenn er dann auch in den reichen Sammlungen von Madrid die schönsten Werke des Titian und Rubens kennen lernte und von dem auf der Höhe seines Ruhmes stehenden Hofmaler Velasquez jedenfalls viele Einflüsse erfuhr, so konnte das bei so kurzem Aufenthalt doch nicht viel mehr als den Werth von einer Orientirung in seiner Kunst haben. Murillo ist daher eines der glänzendsten Beispiele für den berühmten Goethe’schen Satz: „Es bildet ein Talent sich in der Stille.“

Die Folgen dieses von dem unserigen so sehr verschiedenen Bildungsganges sieht man nun bei unserem Esteban Murillo in ganz besonders glänzender Weise, speciell an diesen weltbekannten Kindergruppen, die der Meister offenbar alle in Sevilla auf der Gasse aufgelesen hat. Weil sie so unmittelbar aus dem Leben gegriffen sind, finden wir in ihnen eine Poesie des Proletarierthums entwickelt, wie sie eben nur der Süden kennt und möglich macht, wo man mit einem Stück Polenta oder Kürbiß sich einen ganzen Tag ernähren kann und seinen Durst am nächsten Brunnen löscht. Daß ihre Garderobe ihnen auch keine großen Auslagen verursacht, das sieht man bei den zwei Schlingeln des einen unserer Bilder nur zu deutlich, von denen der eine die Melone, der andere ein Körbchen mit Weintrauben wohl in des Nachbars Garten erbeutet hat und die nun nach dem alten Sprichwort: „Brätst Du mir eine Wurst, so lösch’ ich Dir den Durst“ ihre Schätze mit einander austauschen. Denn der Besitzer der Melone hat, wie man sieht, seinem Genossen bereits ein Stück derselben gegeben und erwartet nun die Bezahlung aus dessen Traubenkorb. Der glückliche Inhaber desselben scheint sich indeß viel zu sehr in den eigenen Genuß vertieft zu haben, um den Wünschen des Andern sofort zu entsprechen.

Er wirft ihm im Gegentheil einen Blick zu, als wenn er das bischen Melone bei Weitem nicht ausreichend für seine herrlichen Trauben fände. Unübertrefflich ist die Wonne geschildert, mit der die Beiden sich Gottes Gaben schmecken lassen, es ist die lautere Natur, wie sie mit solcher rücksichtslosen Wahrheit und zugleich so bezauberndem Humor eben nur einer der größten Künstler aller Zeiten wiederzugeben vermochte. Nicht eine Spur von süßlicher Idealisirung ist zu entdecken an den halb verhungerten kleinen Raubthieren, ihre Glieder, wie ihre Lumpen, starren von Schmutz. Man sieht an diesem mit der ganzen Frische der Jugend aufgefaßten Bilde denn auch noch deutlich den Einfluß des großen Landsmannes Murillo’s, des damals schon hochberühmten Ribera oder Spagnoletto der zwar schon lange in Neapel lebte, dessen in Sevilla und Madrid befindliche Bilder aber offenbar mächtig auf den jungen Murillo wirkten.

Auf seiner vollen Höhe sehen wir Murillo dann in dem andern, etwa zehn bis fünfzehn Jahre später entstandenen Bilde, den „Würfelspielern“, wo er abermals die Proletarierjugend verherrlicht. Hier entwickelt er aber bereits neben noch größerer Meisterschaft in der Zeichnung zugleich einen Reiz des die Figuren umspielenden Lichtes und der Luft, einen Zauber der Färbung, jenes wunderbar fein nüancirte Grau, in dem ihn nie wieder

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