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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Enkel Tiberius Gemellus und seinem Großneffen Gajus gemeinsam vermachte, und sorgte auch dafür, daß die Existenz und der Inhalt dieser seiner letzten Willensbestimmung in Rom bekannt wurde. Aber es half nichts. Macro erkannte zwar, das tiberische Testament ließe sich, weil zum voraus bekanntgeworden, nicht beseitigen. Aber er war entschlossen, einen Mitprincipat des jungen Tiberius nicht aufkommen zu lassen, und setzte zu diesem Zwecke die bekannte Maschinerie des „vernünftigen Volkswillens“ in Bewegung. Er brachte das Testament Tibers in der Sitzung des Senats vor, führte aber zugleich aus, dieser letzte Wille des verstorbenen Kaisers beruhte auf der ganz unstatthaften Voraussetzung, daß sein Enkel, bekanntermaßen ein unreifes, schwächliches, untaugliches Jüngelchen, zum Mitprinceps das Zeug hätte. Während er noch redete, brach der Janhagel als Sprachrohr der „vox populi vox dei“ in die Curie herein, brüllend, das römische Volk wolle den Sohn des Germanicus, nur den Sohn des Germanicus zum Cäsar und Princeps haben, und die „versammelten Väter“ sagten Ja und Amen dazu.

Das Testament des Einsiedlers von Capri wurde in den Papierkorb der Weltgeschichte geworfen und Caligula war von Stund’ an Alleinherrscher.

(Fortsetzung folgt.)

Dem Kaiser und König Wilhelm I.

zum fünfundzwanzigjährigen Regierungsjubiläum.
–– 2. Januar 1886. ––

Winter war es im Land, und Winter war’s in den Herzen,
      Als zu gewaltigem Amt Gott Dich in Schmerzen geweiht.
Unerforschlich Geschick! Dem sterbenden Bruder und Dulder
      Nahm es die Krone und drückt’ Dir sie aufs trauernde Haupt.
Doch Du ermanntest Dich stark, und königlich trugst Du die Bürde;
      Fast an Jahren ein Greis, schienst Du ein Jüngling an Kraft.
Also botest Du Trotz den Stürmen, die Dich umtobten,
      Und wie Siegfried einst, schufst Du Dir selber Dein Schwert.
Als es gehärtet zu Stahl im Feuer des schmerzlichen Streites,
      Schwangst Du die Waffe zuerst wider den inneren Feind,
Schlugst Du vernichtend daheim aufs Haupt den Drachen der Zwietracht,
      Daß er vom tödtlichen Streich nimmer sich wieder erhob.
Weise dann warst Du bedacht auf Schutz der errungenen Güter,
      Legtest zu künftigem Bau sorglich granitenen Grund.
Emsig planten die Meister, und freudig baute Dein Volk mit;
      Sieh’, schon strebten zum Licht mächtige Pfeiler empor!
Aber der tückische Nachbar schaut es mit gierigem Neide;
      Mitten in friedlicher Rast warf er ins Haus Dir den Brand.
Hui, wie flog bei Seite da Hammer und anderes Werkzeug,
      Zornig in jeglicher Hand blitzte das rächende Schwert.
Ströme des Nordens und Südens durchbrachen die trennende Schranke,
      Brausten, ein einziges Meer, über das feindliche Land. –
Winter wiederum war’s; da, König, standst Du als Sieger
      Strahlend in Feindes Palast, um Dich in Waffen Dein Volk.
Ein Jahrzehnt erst trugst Du die Königskrone der Väter,
      Jubelnd bietet man Dir, Kaiser, die Krone des Reichs!
Heil uns, daß Du sie nahmst! – Wen könnte sie würdiger schmücken? –
      Frage die Fürsten im Kreis, alle sie huldigen Dir,
Der ein Held Du zugleich und erster Bürger des Staates,
      Pflichtstreng gegen Dich selbst, Anderen gütig und mild.
Mäßig im Siege dereinst, nun schirmst Du den Frieden der Erde,
      Nimmer ermüdend daheim, rüstig zu krönen den Bau.
Hüter der Arbeit, des Rechts, und Schützer der Armen und Schwachen,
      Schütze ein gütiger Gott lang noch Dein Leben dem Reich! – –
Winter ist es im Land, doch Frühling rings in den Herzen.
      Heil ihm, der ihn geweckt! Kaiser und König, Du bist’s!
 Ernst Scherenberg.


Ueber unbewußtes Zählen.

Von W. Preyer.
I.

Auf den ersten Blick scheint die Ueberschrift „Unbewußtes Zählen“ sich selbst zu widersprechen. Denn wer von 1 bis 100 zählt, weiß bei jeder einzelnen Zahl, daß er zählt: aber es giebt in Wirklichkeit so viele Fälle, in denen der gebildete Mensch zählt, ohne es zu wissen, daß es ihm unmöglich sein würde, sich in der Welt zurecht zu finden, falls er plötzlich diese Fähigkeit verlieren sollte.

Liegen drei Geldstücke neben einander auf dem Tische, so wird Jeder, der sie sieht, auf die Frage „wie viele es seien?“ nach einem einzigen Blicke antworten „3“; auch wenn 4 oder 5 Münzen nur einen Augenblick angesehen werden, erfolgt fast jedesmal die richtige Antwort ohne Zögern. Sie wird so schnell gegeben, daß zum überlegten, wenn auch noch so beschleunigten Zählen keine Zeit bleibt.

Also ist unbewußtes Zählen nicht nur nichts in sich Widersprechendes, sondern etwas Alltägliches. Man darf nicht einwenden, das sei kein Zählen mehr; denn wenn Jemand bestimmt angeben kann, ob 3 oder 4 oder 5 Gegenstände sich vor ihm befinden, so muß er Zahlen unterscheiden können, und gewiß ist, daß, wer nicht zählen kann, auch jene Fragen nicht zu beantworten vermag. Kinder müssen, um 3 Kugeln von 4 Kugeln zu unterscheiden, anfänglich die eine Kugel zur anderen fügen; manche lernen aber dadurch zählen, ehe sie die Zahlwörter kennen.

Hierdurch ist bewiesen, daß Zählen die Kenntniß der Zahlwörter nicht nothwendig voraussetzt, wie denn auch ungebildete Taubstumme, die noch nicht lesen und schreiben können, ohne Ziffern nur mittels ihrer Finger zählen.

Dann folgt aber weiter aus dem Verhalten des Kindes, welches die Bedeutung der Zahlwörter erlernt hat, daß nur durch Uebung, das heißt durch sehr oft wiederholte Zählung von wirklichen Dingen, die Sicherheit des unbewußten Zählens beim bloßen Anblick von 1, 2, 3, 4 bis 5 Dingen erreicht wird. Wer sich nicht übt, wie der Blödsinnige, kann nicht, ohne die Eins zur Eins zu fügen, bis 3 zählen und bleibt auf der niedrigsten Entwicklungsstufe des Kindes stehen.

Nun ist aber bekannt, daß Niemand, wenn etwa 50 Stahlfedern oder einzelne Markstücke ungeordnet vor ihm liegen, in einem Augenblicke sagen kann, wie viele zu sehen sind. Der Eine zählt schneller als der Andere, der Lehrling macht Gruppen von drei, von fünf, von zehn und faßt die Gruppen zusammen, der erfahrene Geldwechsler übersieht mit großer Sicherheit vielleicht in wenigen Sekunden die ganze Summe, ohne das Geld zu berühren, aber auch er wie jeder Andere muß aufmerksam zählen, sowie die Anzahl der Stücke über eine gewisse Grenze hinausgeht. Wo liegt diese Grenze?

Der bekannte Rechenkünstler Dase, welcher im Jahre 1861 starb, sagte, für ihn wären einige dreißig gleichartige Gegenstände ebenso sicher in einem einzigen Augenblicke gesondert wahrnehmbar, wie für andere Menschen drei oder vier, und es ist oftmals bestätigt worden, daß er nicht übertrieb; denn wenn er schon durch seine kaum von den besten Rechenmaschinen seiner Zeit übertroffene Sicherheit im Kopfrechnen das größte Aufsehen erregte, so ist doch seine Art zu sehen, die Geschwindigkeit, mit der er die Anzahl von Schafen in einer Herde, von Büchern in einem Repositorium, von Fensterscheiben in einem großen Hause richtig angab, noch erstaunlicher.

Weder vor ihm noch nach ihm hat man von einem solchen Talent etwas gehört. Da aber jeder Mensch dasselbe Vermögen in geringem Grade besitzt und, wie ich hier zeigen will, durch Uebung steigern kann, so ist es wohl möglich, daß in Zukunft mehrere derartige Zählkünstler auftauchen werden. Die Meisten wissen nur nicht, wie leicht es ist, sich zu üben.

Zunächst kann man sich schon durch wenige Proben davon überzeugen, daß ohne Uebung nicht Jedermann 6 und 7 ebenso sicher unterscheidet, wie 3 und 4. Aber man braucht nur mit bekannten kleinen Gegenständen, wie Zündhölzchen oder Stecknadeln, die in unbekannter Menge unter einem Blatt Papier liegen und die man während der Dauer einer Sekunde enthüllt und ansieht, Rathversuche anzustellen, so merkt man bald, daß nicht viel dazu gehört, um 6 bis 7 und dann bis 9 ebenso sicher jedesmal richtig zu taxiren, wie 3 bis 5. Aber man muß sich wohl hüten, bei diesen Bemühungen bewußt zu zählen – dazu darf man sich gar nicht

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 15. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_015.jpg&oldid=- (Version vom 14.1.2024)