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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Die Andere.

Von W. Heimburg.

An die gnädige Frau!“ sagte das Stubenmädchen und überreichte meiner Großmutter, der Frau von Werthern, einen Brief. Die alte Dame fuhr aus ihren strickenden und nickenden Träumen empor, ließ die Arbeit sinken, zog die über die Stirn hinaufgeschobene Brille vor die Augen und studirte die Aufschrift.

Es war still im Zimmer, so unheimlich still, wie es nur sein kann nach Tagen des lautesten Schmerzes, nach den Stürmen trauriger Schicksale; seit zwei Wochen war wohl kaum ein Wort gesprochen, das nicht gerade zu den allernothwendigsten gehört hätte. Nun erschrak ich beinahe, als die Stimme der alten Frau so energisch zu mir sagte:

„Tone!“

„Liebe Großmama?“

„Rufe die Lotte!“

Ich erhob mich und ging in das Nebenzimmer. Es war unser sogenanntes Boudoir; die Meubel meiner verstorbenen Mutter standen darin, meine Blumen, Lottens Klavier und Staffelei, und den Boden deckte ein weicher Teppich.

„Lotte?“ fragte ich, als ich sie nicht gleich erblickte; da richtete sie sich vom Sofa empor und sah mich mit verweinten Augen an, deren Glanz doch alle Thränen nicht hatten verdunkeln können.

„Was soll ich denn?“ fragte sie mit ihrem hellen, eigenthümlich klangreichen Organ und schüttelte die langen Zöpfe in den Nacken zurück. „Ist Besuch gekommen?“

„Nein, Lotte; Großmama will mit uns reden.“

Sie seufzte und folgte mir; wir kamen zusammen zu der alten Dame. Sie betrachtete uns erst ein Weilchen kummervoll über die Brillengläser hinweg, dann reichte sie mir das Schreiben. „Vorlesen, Tone!“ sagte sie kurz.

„Von wem?“ fragte Lotte.

„Abwarten, Prinzeßchen!“ lautete die Antwort. „Hierher setzen, Kind!“ scholl es gleich darauf. Lotte hatte eine fluchtartige Bewegung gemacht; nun sank sie aber gehorsam auf den nächsten Stuhl, senkte den Kopf und hielt die Hände gefaltet auf dem Trauerkleide. Es sah sehr ergebungsvoll aus, aber ich kannte das verrätherische Zucken um die feinen Nasenflügel nur allzu gut. Nun las ich:

 „Meine beste Frau von Werthern!

Ihr lieber Brief hat mich recht aufgeregt und erschreckt. Was ist der Mensch – mußte ich mich fragen – daß er den Kopf so hoch trägt und sich so groß dünkt? Ein kleiner Zufall – und vorbei ist’s mit aller Pracht und Herrlichkeit! Ach, gute Werthern, es ist schwer, einen Menschen sterben zu sehen, aber das Allerschwerste, wenn es ein Kind ist, das Gott zu sich fordert. Und, darum drücke ich Ihnen im Geiste die Hand und sage, daß ich mit Ihnen fühle und mit Ihnen traure um Ihren Sohn. Ich habe auch Drei hergeben müssen, drei große prächtige Jungen – aber, still davon, liebe Werthern. Sie sind auch noch schlimmer daran; er war Ihr Einziger!

Was Sie nun sonst noch an mich geschrieben, will ich gleich beantworten, Leben läßt sich’s hier bei uns, theuer ist’s nicht, Wohnungen sind da; zwar keine Berliner Etagen im Geheimrathsviertel, aber gemüthlich und traulich. Mein Fritz hat ausgerechnet, mit dem, was Sie zu verzehren haben, leben Sie hier wie die Frau Fürstin selbst. Na, das heißt, besser jedenfalls wie in der Großstadt. Es sind doch fünfhundert Thaler ganz nett für drei Damen, und wenn die jungen Mädchen thätig im Hanse, und Sie begnügen sich mit einer Bedienung, so können Sie sich aller Ihrer Sorgen entschlagen. Was uns anbetrifft, so stehen wir Ihnen mit Rath und That gern zur Verfügung. Ich weiß auch ein nettes Quartier in unserer Nähe, und wenn Sie kommen mit den Enkelinnen, so wohnen Sie zuerst bei uns.

Es ist lange her, seit wir uns zuletzt gesehen! Da waren Sie noch die Seele, der Mittelpunkt unserer Geselligkeit, und ich eine junge lebenslustige Frau; da lebte mein guter Mann noch, und die Jungen waren klein, und in Borsfelde tanzten wir auf der Tenne beim Erntefest. Nun sind die Blätter von den Bäumen gefallen, gute Frau von Werthern, und die Schwalben fortgezogen; Borsfelde ist in fremden Händen und der junge lebenslustige Officier, der so tapfer mit uns tanzte dazumal – todt, und seine Töchter stehen als Waisen vor Ihnen, Aber –“

Hier brach der Brief ab, und eine Thränenspur zog sich bis zur Unterschrift:

„Fritz und ich grüßen herzlich. Unverändert Ihre treu ergebene Friederike R.“ 

Dann kam noch ein Postskriptum: „Die Wohnung, die ich meine, kostet jährlich sechszig Thaler.“

„Das wäre recht,“ nickte die Großmutter nach einer langen Pause, „Setze Dich hin, Tone, und schreibe, sie soll das Quartier miethen und ich lasse für freundliche Auskunft danken.“

„An wen?“ stammelte ich erschreckt, und wir sahen Beide verständnißlos das alte Frauengesicht an, das so ruhig wieder auf ihr leise klapperndes Strickzeug blickte,

„An die Amtsräthin Roden.“

„In?“

„In Rotenberg.“

„Wir wollen dahin ziehen, Großmama?“ forschte ich.

„Ja wohl, zum Oktober.“ Sie ließ das Strickzeug wieder sinken und sah von mir zu Lotte hinüber. Das schöne Mädchen war dunkel erröthet, und ihre Lippen bissen auf den Zipfel des feuchten Taschentuches, das sie zusammengeballt in der Hand hielt.

„Hier bleiben können wir nicht,“ sprach die alte Frau sanft, „diese Etage kostet genau so viel, als wir fortan jährlich zu verzehren haben. Mit Eurem Vater verlort Ihr auch das sorgenfreie Leben, und den letzten Rest seines Vermögens nahm der Hans in Gestalt mühsam bezahlter Wechsel und Rechnungen mit nach Amerika. Ihr wißt Euch aber zu schicken und zu fügen, hoffe ich, und werdet mir das tragen helfen, was mich am Rande des Grabes noch so hart getroffen. Auch Du, Prinzeßchen – wie? Gieb mir die Hand.“

Das Mädchen hatte sich erhoben, legte einen Moment seine Hand in die verwelkte Rechte der Sprechenden, riß sich dann hastig los und schritt hinaus. Vom Nebenzimmer drang ein kurzer Laut herüber, es war halb wie Lachen, halb wie Schluchzen, dann ward es still. Ich saß am Schreibtisch und hielt die zitternde Feder über dem Papier; es wollte mir gar nicht gelingen zu schreiben an diese unbekannte Frau Amtsräthin, nach diesem unbekannten Orte, wohin das Schicksal uns werfen wollte und von dem ich weiter nichts wußte, als daß in seiner Nähe Borsfelde liegt, das ehemalige Werthern’sche Familiengut, welches schon vor vielen Jahren unglückliche Verhältnisse uns genommen hatten.

Als ich endlich fertig war und das Schreiben der Großmutter zur Durchsicht brachte, sah die alte Frau bekümmert zu mir empor. Ich habe nie wieder ein Paar so kluge alte Frauenaugen gesehen; – freilich fehlte ihnen für gewöhnlich jede Spur von Milde, und einen feuchten Schimmer erblickte ich nie darin. Selbst am Begräbnißtage meines Vaters, ihres einzigen Sohnes, war keine Thräne aus ihnen geflossen. Und dennoch sah ich gern in diese hellen Augen; man mußte Vertrauen zu ihnen fassen, es spiegelte sich in ihnen ein ganzes Menschenleben, vergangen in peinlichster Pflichterfüllung und Ehrenhaftigkeit. Streng, klar, bewußt war ihr Ausdruck, wie die Frauen ihn bekommen, die in ihrem Gatten nur ein großes Kind besitzen und, statt einen Halt zu finden, in ewiger Sorge und Unruhe über ihn zu wachen genöthigt sind, damit Alles seine Ordnung behält, das Haus, die Wirthschaft, die Kinder. Mein Großvater war ein solches Kind gewesen, leichtsinnig, heftig bis zum Jähzorn und herzensgut. Es lag so in der Werthern’schen Art.

„Es ist gut, Tone. Jetzt sage mir, wie denkst Du über unseren Plan?“

„Mir ist Alles recht,“ gab ich zurück, völlig verwundert; ich war so selten im Leben um meine Meinung befragt worden.

„Gut; Du bist ja auch vernünftiger als die Lotte, Sie kann freilich nichts dafür, daß sie gegen Alles revoltirt; sie hat’s von ihrer Mutter, die war so ein Tollkopf.“

Lotte war meine Stiefschwester; Hans, um zwei Jahre älter als sie, ihr rechter Bruder. Ich, die älteste der Schwestern, hatte meine Mutter nicht gekannt, sie starb schon bei meiner Geburt.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_009.jpg&oldid=- (Version vom 11.6.2020)