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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

„Das kann man mir am Morgen blasen,“ sagt der Malle Heinrich.

„Dann was Anderes!“

„Horch!“

Von der nahen Johanniskirche schlägt es neun. Der Malle Heinrich lauscht und zählt, und sobald der letzte Schlag verklungen, beginnt er auf der hohlen Hand zu blasen: Nun danket alle Gott! und wenn die Töne zu hoch oder zu tief werden, singt er den Text mit dünner meckernder Stimme, und dann bläst er wieder, und ich höre eifrig zu und blicke nach der Mondsichel hinauf, an der Wölkchen vorüberziehen mit gelben und röthlichen Rändern, die wie Flügel aussehen, und denke an die Engel, die des Morgens um Gottes Sonnenthron tanzen und manchmal sich in weiße Tauben verwandeln. Dabei mag ich wohl die Augen geschlossen haben – vielleicht in der Hoffnung, dann auch Engel zu sehen – als ich plötzlich einen Schritt neben uns höre und der Malle Heinrich jäh verstummt.

Vor uns aber steht mein Stiefbruder August, der Schlosserlehrling, die Mütze schief auf dem Krauskopf, die beiden Hände in den Taschen. Er kommt gewiß wieder aus einer von den Matrosenkneipen und ist berauscht. Nun schlägt er ein Gelächter auf, das mir häßlich durch die stille, mit Engelsträumen gefüllte Seele schrillt, und ruft: „Was thust Du hier auf unserer Bank, maller Heinrich?“ Und in demselben Augenblick hat er den alten Mann mit kräftigen Fäusten an den Schultern gepackt und von der Bank gerissen. Der arme Mensch taumelt ein paar Schritte seitwärts, stolpert und fällt, wobei er in ein klägliches Weinen ausbricht, wie ein kleines Kind. In dem Moment stürze ich mich auf August und schlage blindwüthend auf ihn los. Er ist so viel älter als ich, und ich könnte eben so gut hoffen, den Thurm der Johanniskirche umzuwerfen, als den Riesen niederzuringen. Es ist ein lächerlicher Kampf und ist doch ein Kampf, denn so oft er mich auch, halb lachend, halb ärgerlich, von sich abschüttelt: ich schnelle wieder empor, springe gegen ihn an, klammere mich an seine Beine, krampfe mich um seinen Hals, bis er mich wüthend von sich schleudert und ich mit der Stirn auf die scharfe Kante einer der Stufen der Hausthürtreppe schlage. Einen Schmerz fühle ich nicht, wohl aber ein fürchterliches Dröhnen durch den Kopf und raffe mich sofort wieder auf; aber die Häusergiebel tanzen um mich her, die Mondsichel fällt vom Himmel, mir gerade auf die Stirn; durch die Gasse vom Hafen saust und braust das Meer heran und schlägt über mir zusammen.

Als ich erwache, liege ich in meinem Bett und sehe beim matten Schein der Lampe, vor die irgend etwas gestellt ist, das Gesicht des Vaters, der an meinem Bett sitzt und gesenkten Hauptes bekümmert vor sich hinstarrt. Ich mag mich wohl geregt haben, denn er blickt schnell auf; ein freudiges Lächeln fliegt über das liebe blasse Gesicht, während er schnell in ein Waschbecken greift, das auf dem Stuhle bereit steht, die heiße Kompresse auf meiner Stirn mit einer frischen zu vertauschen. Das thut so wohl, und ich habe die Empfindung, daß keine andere Hand so leicht und zart sein könnte, wie des Vaters Hand, und will ihm danken und ihm sagen, daß ich gar nicht krank sei und er sich nicht ängstigen solle. Aber ich bringe es nicht über die Lippen. Plötzlich steht auch meine Mutter an dem Bett; sie mag wohl eben erst aus der Tiefe des Zimmers herangetreten sein oder hat auch zu meinen Häupten gesessen und sich just erhoben. Meine Blicke gehen von dem Vater, der dasitzt, zu der Mutter, die neben ihm steht, und ich bin sehr verwundert, denn der Vater bringt mich wohl oft zu Bett, aber die Mutter hat es schon lange, lange nicht mehr gethan, und ganz gewiß habe ich sie zusammen nie vor meinem Bette gesehen. Ich bin also wohl recht krank und will aus großem Mitleid mit mir anfangen zu weinen, bis mir plötzlich einfällt, daß, wenn ich sehr krank bin, ich gewiß morgen nicht zur Schule zu gehen brauche und den ganzen Tag spielen darf im Hof und in dem Wallgarten, oder beim Vater in der Werkstatt, während er hobelt und schneidet und leimt, und ich auch hoble und schneide und leime, aber keinen Sarg für Nachbar Hopp’s Gustav, sondern ein schönes großes Segelboot, das ich hinter dem Wall im Wasser schwimmen lassen kann.

So lächle ich denn dem guten Vater zu, ganz schon im Geist bei dem schönen Spiel morgen, und schlafe wieder ein und spiele weiter im Traum.

Aber nicht im Hof, im Wallgarten oder bei dem guten Vater in der Werkstatt, sondern in einem großen grünen Walde. Es kann aber auch eine Wiese sein, nur daß dann die Gräser so hoch wie Bäume sind, die sich geschmeidig aus einander thun, wenn ich hindurch will, die bunten Blumen zu pflücken, die unten wachsen. Manchmal aber sind die Blumen hoch über mir, daß ich nicht hinauflangen kann, und wiegen die großen Kelche hin und her, während bunte Vögel mit breiten weichen Flügeln um sie flattern. Ich weiß freilich, daß es keine Vögel, sondern Schmetterlinge sind, nur daß ich so große und bunte nie gesehen habe. Dann ist der Wald zu Ende, und vor mir breitet sich ein großes Wasser, das blitzt und blinkt im Sonnenschein, indem es an mir vorüberschießt. Oder ist es unter mir? Wohl unter mir, denn die großen Vögel, die unten auf dem Wasser schwimmen und, sich aus dem Wasser aufrichtend, mit den Flügeln nach mir schlagen und dazu die Schnäbel aufsperren und laut quaken, schießen unter meinen Füßen weg, und ich schwebe wie in der Luft und staune den mächtigen Wasserberg an, in dem sich immer etwas Dunkles klappernd dreht, und oben über dem klappernden Wasserberg hängt eine weiße Wolke, in der schimmert es bunt, und manchmal fliegt von der schimmernden Wolke etwas zu mir herüber und näßt mir das Gesicht und das Kleidchen. Es ist ein weißes Kleidchen, und ich wundere mich, wie ich in das weiße Kleidchen komme, das sich doch gar nicht für einen Quintaner schickt. Ich will das rothe Schälchen, das ich um den Leib habe, abknüpfen, um damit nach den Enten zu schlagen, und kniee auf dem Brückensteg, der auf einmal unter mir zittert, und dann hat mich ein Mann von dem Rande weggerissen und trägt mich von der Brücke und über den grünen Wald, in welchem ich vorhin gespielt habe, der aber nun, wie mich der Mann in seinen Armen trägt, tief unter mir liegt. Ich habe mich unterdessen von meinem Schrecken erholt, und weil die blauen Augen des Mannes so dicht über mir sind und so glänzen, fasse ich danach, so oft er den Kopf zurückbiegt, und ich nur noch bis an seinen Bart langen kann, an dem ich ihn zause. Er lacht und legt mich lachend einer Frau auf den Schoß, die mich mit Küssen bedeckt, während der Mann dabei steht und mit den glänzenden blauen Augen von seiner Höhe auf uns herabsieht.

Der Traum wandelt sich. Wieder schimmern die glänzenden Augen über mir, aber jetzt nicht in Güte, sondern in Zorn, und der Mann hebt sich aus einem Stuhle auf, vor dem meine Mutter auf den Knieen liegt und mich an sich zieht, und ich kniee neben ihr, wie des Abends in meinem Bettchen, wenn ich ihr das Gebet nachspreche. Ich weiß nicht, wie wir dahin gekommen sind; ich weiß auch, daß ich noch nie in dem Raum gewesen bin, der mir endlos scheint und in welchem ich mich verwundert umsehe, während ich so auf den Knieen liege mit gefalteten Händen. Auf dem Tisch steht eine Lampe, und der ungeheure Raum ist mit einem goldigen Halbdunkel gefüllt, aus dem hier und da Gesichter blicken, und in welchem seltsame Gestalten stehen, vor denen ich mich fürchte, so daß ich die Mutter am Kleid zupfe und sie bitte, daß wir wieder fort möchten. Die Mutter hört nicht auf mich, und ich fange an zu weinen, und die Mutter weint auch, während der Mann sie aufhebt und an sich zieht und auf die Stirn küßt. Dann ist es nicht mehr in dem goldschimmernden Raum mit den Gesichtern und Gestalten, die aus dem goldigen Halbdunkel quellen, sondern draußen im Freien, und die Mutter schluchzt immer leise vor sich hin, während sie mich durch die Nacht trägt und die Sterne oben flimmern. Zuletzt sind wir vor dem klappernden Wasserberg. Ich weiß es, obgleich es jetzt dunkel ist und ich den Wasserberg nicht sehe, sondern nur sein Klappern höre, und fühle, wie er mich mit seinem kalten Athem anhaucht. Die Mutter steht mit mir an dem Geländer des Stegs, und ich sehe unten im Wasser die Sterne tanzen. Sie biegt sich über das Geländer; ich fange an, mich zu ängstigen, ich weiß nicht, ob deßhalb, weil sie so weint, oder weil ich fürchte, sie wird mich fallen lassen, und ich klammere die Aermchen fest um ihren Nacken. Sie drückt und preßt mich an sich, und dann verschlingt sie und mich etwas Fürchterliches, das ganz schwarz und kalt ist und saust und braust.

Ueber dem Fürchterlichen fahre ich mit einem Schrei aus meinem Fieberschlaf auf und starre um mich her. Es dauert einige Zeit, bis ich mich zurecht finde. Der Traum ist so sonderbar deutlich gewesen. Ich blicke nach den Gesichtern, die aus dem goldigen Halbdunkel hervorgeschimmert haben, und frage den Vater, wo sie geblieben sind? und der Mann mit den blitzenden Augen und der klappernde Wasserberg? Der Vater murmelt etwas von

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 3. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_003.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2023)