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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)


Was will das werden?

Erstes Buch
Sie entsetzten sich aber Alle, und wurden irre, und sprachen 0
Einer zu dem Andern: Was will das werden?  
Apostelgeschichte II, V. 12  

Ich habe es später stets als seltsam, aber auch als für mich charakteristisch angesehen, daß ein wirklicher Traum die Pforte war, durch welche ich aus der traumhaften Dämmerung der Kinderzeit in das hellere Licht getreten bin, welches das erwachende Bewußtsein über die Knabenjahre breitet.

Es mag da auch eine Täuschung unterlaufen: ich habe gewiß auch schon vorher die Menschen und die Dinge gesehen und mir meine kindischen Gedanken darüber gemacht; aber was ich, und was um mich her vor dem Traum war, und das Nachher – es sind doch für meine Erinnerung zwei scharf gesonderte Sphären, wie des Mondes beleuchteter Rand und sein übriges Rund, das sich nur kaum in matterem Blau von dem dunklen Azur des nächtlichen Himmels abhebt. Ja, ich habe die Empfindung, als ob jener Abend nur deßhalb nicht, wie alle, die vorhergingen, für mich in der Nacht der Vergessenheit versunken ist, sondern deutlich vor meinem inneren Auge steht, weil er gleichsam schon die Schwelle ist jener Traumespforte. Und selbst auf das Bild der goldenen Mondessichel mit der mattblauen Scheibe dahinter wäre ich schwerlich jetzt verfallen, nur daß gerade an jenem Frühlingsabend das himmlische Gestirn eben diesen Anblick bot, und ich, der ich das Wunder zum ersten Male bemerkte, meinen Kameraden Emil Israel darauf aufmerksam machte, mit dem ich in dem Gäßchen vor den Thüren unserer benachbarten elterlichen Wohnungen spielte. Aber Emil sagte, er könne das nicht sehen und auch nicht den Stern, der rechts unter der Mondsichel stand, und der Mond habe auch keine Messingränder, sondern Fransen nach allen Seiten rothe und gelbe wie seiner Mutter Umschlagetuch – und wir wollten lieber weiter spielen. Da ich keine Ahnung hatte, was das ist: kurzsichtig sein, wie es doch der gute Emil schon damals in hohem Grade war, so ärgerte ich mich ein wenig über ihn, und dann hatte ich den Mond und den Aerger vergessen, und wir spielten weiter.

Das Gäßchen hinauf und hinab – hinauf, bis es in den kleinen stillen Platz vor der Johanniskirche einmündete, und hinab, bis aus der ersten der drei oder vier Matrosenkneipen an dem anderen Ende nach dem Hafen Gesang und Lärm unsere lauschenden Ohren trafen. Weiter durfte Emil nicht: sein Papa hatte es ihm streng verboten, und es hätte des Verbotes wohl nicht einmal bedurft bei dem schüchternen Jungen, den ein Zittern befiel, wollte ich ihn einmal verführen, die geheiligte Grenze zu überschreiten. Dann sagte er: thu’s nicht, Lothar, es sind böse Menschen! und faßte mich bei der Hand. Und wir liefen die Gasse wieder hinauf und lachten über die ausgestandene Angst, an der ich, trotz meines gespielten Wagemuthes, doch wohl mein gemessenes Theil hatte; und waren glüklich, wie es eben nur Kinder sein können, zumal in solcher Stunde, wo in der hereinbrechenden Nacht ihre kleinen Lebensflammen aufleuchten wie die Sterne; die frischere Luft ihre zarten Busen wie mit himmlischem Athem und die feinen Gliederchen mit elastischer Kraft füllt, daß sie sich nicht wundern würden, wenn sie plötzlich von dem holprigen Pflaster sich heben und hinüber und herüber durch den Aether schweben könnten wie zwitschernde Schwalben.

Dann sitzen wir auf der Bank neben den Hausthürstufen unter dem Fenster von „Großmutters Stube“; aber Großmutter ist halb taub und macht ihr Fenster nie auf, so können wir uns ungestört unsere kleinen Geschichten erzählen. Vielmehr ich erzähle und Emil hört zu. Emil erlebt nie etwas; mir begegnet Merkwürdiges zu allen Zeiten. Ich habe freilich in diesem Augenblick eine Ahnung davon, daß ich den schwarzen Kater mit den feurigen Augen auf dem Schimmel in Nachbar Hopp’s Pferdestall weder gestern Abend, wie ich behaupte, noch jemals habe sitzen sehen; aber indem ich es erzähle, werde ich immer dreister; denn nun sehe ich ihn doch leibhaftig mit dem krummen Buckel und dem hochgestellten Schweif und er faucht mich an, und der alte Schimmel schnaubt vor Angst und schüttelt sich – da fällt der Kater herunter und fliegt als Fledermaus zum Stallfenster hinaus.

Emil drückt sich bei dieser grausigen Geschichte näher an mich, sagt aber doch: „Weiter, Lothar!“ wie jedesmal, ich mag nun erzählen, was ich will. Es fällt mir just nichts ein, und ich schlage vor, noch ein bischen zu spielen; da kommt der „Malle Heinrich“ und setzt sich zu uns auf die Bank, die wohl nur für zwei Personen ist. Aber Emil und ich brauchen zusammen nich’ viel Platz und der „Malle Heinrich“ nimmt auch keinen großen Raum ein: ein fadendürrer, schlottriger alter Mensch, der von der Stadt das Gnadenbrot empfängt, und den man frei umher laufen läßt, weil sein Blödsinn völlig harmlos ist.

Es ist die zweite der Stunden, an denen der „Malle Heinrich“ umgeht: die neunte Abendstunde; die andere ist die sechste des Morgens. Was er in der Zwischenzeit vornimmt, weiß kein Mensch. Zu diesen Stunden aber schweift er durch die Gassen, immer still vor sich hin lächelnd und mit sich selbst halblaut schwatzend, glückselig, wenn ihn, was selten geschieht, einer des Wortes würdigt und er demselben aus der großen Zeit seines Lebens erzählen kann. Das war aber vor einem Lebensalter, als er die Stadtmusikanten, die von dem Thurm der Hauptkirche den Tag an- und abblasen mußten, regelmäßig begleitet hat zu ihrem luftigen Orchester oben, nachdem er ihnen unten die Thurmthür aufgeschlossen. Er ist schon damals blödsinnig gewesen; aber die Musikanten haben sich die Gesellschaft des kleinen Küsterjungen gern gefallen lassen, besonders des Winterabends, wenn er wie eine Katze mit der Laterne die steilen Treppen vor ihnen her hinauflief, plappernd und glückselig lachend, daß auch dem furchtsamsten Neuling die Angst darüber vergehen mußte.

Denn die Musik, die schöne Musik da oben auf dem Thurm hören zu dürfen, das ist seine Glückseligkeit. Er kennt keine andere, er verlangt nach keiner anderen, er denkt an keine andere, er träumt, er spricht von keiner anderen, heute wie vor dreißig Jahren. Nur daß heute in seinem armen wirren Kopfe Alles sich verändert hat – ganz verändert! Zum Beispiel die Nikolaikirche selbst. Seitdem die schöne Musik oben nicht mehr gemacht wird, ist der Thurm kaum größer als die anderen; damals hat er bis halb in den Himmel geragt. Und aus den Schallluken heraus hat man am hellen Sommermorgen die ganze Welt sehen können von einem Ende bis zum anderen, Alles im wunderschönsten Sonnenschein, während oben sich der blaue Himmel aufgethan hat. Den lieben Gott kann man nicht sehen; der sitzt auf der Sonne in lauter Glanz und Schimmer, daß man die Augen schließen muß. Aber die Engel hat er dann manchmal gesehen durch die geschlossenen Augen: sie haben rothe und grüne und blaue Flügel und tanzen Ringel-Ringel-Rosenkranz. Sobald man aber die Augen wieder aufmacht, sind sie gleich wieder im Himmel. Ein paarmal, als sie nicht schnell genug hinaufkonnten, haben sie sich in weiße Tauben verwandelt und sind mit den anderen Tauben geflogen – Konsul Riekelmann seinen Tauben – ein paarmal rund herum um den Thurm. Dann haben sie sich aufgeschwungen und husch! durch die blaue Luft wieder zurück in den Himmel. Es giebt aber nach böse Geister, die können sich verwandeln in schwarze Dohlen und glotzäugige Eulen. Sie kommen des Abends in der Dunkelheit und krächzen und schreien um den Thurm und klappern mit den Läden an den Luken und pfeifen und heulen aus Leibeskräften immer gegen die schöne Musik an. Denn die können sie für den Tod nicht leiden und möchten sie zerreißen, sobald sie aus den Luken herauskommt. Manchmal haben sie auch ganze Stücke abgerissen von der schönen Musik, und die Musikanten haben dann blasen müssen aus Leibeskräften gegen die bösen Teufel: Nun danket alle Gott! Da sind die Teufel gar wild geworden und haben an den Thurm geschlagen und ihn gerüttelt, daß er gewackelt hat; aber die Musik, die schöne Musik ist ihnen immer über gewesen, und am andern Morgen hat Gottes Sonnenthron noch einmal so herrlich geglänzt, und die Luft ist ganz voll von schönen Engeln gewesen, und haben Ringel-Ringel-Rosenkranz getanzt zu der Musik, der schönen Musik.

„Hast Du denn auch blasen können, maller Heinrich?“ frage ich

Ich weiß aber ganz genau, daß er das nur hören will, wenn er auch sehr verschämt thut und sich bitten läßt. „Blase einmal, maller Heinrich: ‚Wie schön leucht’ uns der Morgenstern!‘“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 2. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_002.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2023)