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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Dann wieder kehrte Tag um Tag im Finkenhof ein, doch keiner brachte den Jörg. Gleich am dritten Tage nach seiner Verhaftung war eine Botschaft an die Mariann’ gekommen: seine Sache wäre in Ordnung – um welchen Preis! – aber sie sollte ihn nicht erwarten. Die Ungewißheit über Ferdl’s Schicksal ließe ihm keine Ruhe, und so wollte er nach München gehen und dort verbleiben, bis in Ferdl’s Sache etwas entschieden wäre. Weiter war nicht die geringste Nachricht mehr gekommen!

Fast wußten die Leute im Dorfe mehr von Jörg und Ferdl, als im Finkenhofe die Mariann’ und noch eine Andere, die niemals die Lippe zu einer Frage öffnete, allmorgendlich aber mit einem bangen, flehenden Blicke ihrer traurigen Augen an dem Gesichte der Bäuerin hing. Aus den „Münchener Blatt’ln“ hatten die Leute die erste Nachricht von Ferdl’s Auferstehung und Rettung gelesen und hatten dabei erfahren, daß jener böse Verdacht, in dem er gestanden, durch eine Aussage des jungen Herrn Grafen völlig von ihm genommen wäre, so daß nun Ferdl einzig noch dem Spruche des Militärgerichtes unterstand, von dem ihm die Leute freilich wenig Gutes prophezeiten. In allen Stuben und auf allen Straßen wurde die Sache mit unermüdlichem Eifer verhandelt.

Bei diesen Plauderstündchen war Veverl nur selten zugegen. Fast die ganzen Tage saß sie in ihrem Kämmerchen mit einer Näharbeit beschäftigt – und ach, wie viele Seufzer und Thränen stichelte sie da hinein! Das änderte sich freilich mit dem Morgen, an welchem Mariann’ von Jörg einen Brief erhielt – einen Brief voll Jubel und Freude. Alles, alles wäre gut, das Militärgericht hätte seinen Spruch gethan, in Rücksicht auf Ferdl’s frühere glänzende Führung, auf seine im Kriege bewiesene Tapferkeit, auf den Umstand, daß seine Dienstzeit ohnehin zwei Tage später zu Ende gewesen wäre, und in Erwägung der Thatsache, daß er sich selbst wieder gestellt hätte, wäre seine Flucht nicht als Desertion aufgefaßt worden, sondern nur als „willkürliche Absentirung vom Regimente, begangen im Zustande hochgradiger Aufregung über den plötzlichen Tod einer nahen Anverwandten“. Und der Brief schloß mit den Worten: „Ja, und darum hat er kein’ andere Straf’ net ’kriegt, als wie fünf Tag’ Mittelarrest. Nachher muß er seine zwei letzten Tag’ noch ausdienen. Und mich laßt’s net fort aus der Stadt, ich muß d’rauf warten, bis er frei is, damit wir mitanander heim können.“

Vor Freude und Vergnügen glänzte das Gesicht der Bäuerin, als sie diesen Brief in Veverl’s Hände legte. In Furcht und Bangen begann dos Mädchen zu lesen – aber es war mit dem Briefe noch nicht zu Ende, da schlug es schluchzend schon die Hände mitsammt dem Blatte vor das Gesicht.

„Aber Veverl, Veverl, geh’, mußt doch auslesen,“ lachte Mariann’, „da schau, ganz unten am Brief steht noch ’was dran g’schrieben.“ Und da blickte Veverl unter fließenden Thränen wieder auf das Blatt und las: „Gelt’, Mariann’, schau fein Deine Kästen nach, ich mein’, es wird bald Hochzeit geben im Finkenhof.“ Mit scheuen Augen schaute Veverl auf, und als sie den lachenden, zwickernden Blicken der Mariann’ begegnete, färbten sich ihre Wangen mit glühendem Roth, und unter seligen Zähren barg sie das Gesicht an der Brust der Bäuerin.

Von dieser Stunde an blühte sie auf wie eine Rose unter der Junisonne. Mit all ihrem Denken und Empfinden hing sie an diesem einen wonnesamen Gute, das sie für ihr Herz gefunden und erworben, während jene ganze traumhafte Welt, in der sie bislang gelebt und geathmet, jählings in Trümmer brach. Die Königsblume ohne Macht und Wirkung! Kein Edelweißkönig! Kein Alfenreich! Nicht Wunder noch Zauber! Alles, alles die natürlichste Wirklichkeit! Und der Dori dahin, trotz der Sühne, die er der um ihr Mahl verkürzten armen Seele geleistet! Jedes dieser Worte, jeder dieser Gedanken hatte eine klaffende Bresche in die Schutzwehr ihrer Geisterwelt gerissen – und endlich waren sie ausgetrieben, die Alfen und Wichte, die Feen und Waldweiblein, und wo sie sonst gehaust mit sicherem Behagen, da herrschte jetzt der irdische Tag mit seinem hellen, lachenden Himmel. Nur Liebe noch und Sehnsucht war Veverl’s ganzes Denken und Fühlen. Und wie glücklich war sie bei äll diesem Bangen und Harren, ob manchmal auch das traurige Erinnern an den guten Burschen, der nun draußen lag in kühler Erde, ihr Glück zu trüben kam, sowie ein Wolkenschatten dahinhuscht über sonnige Wiesen.

Dann war es eines Abends – Veverl saß in der Stube bei den Kindern – da stürzte die Mariann’ herein: „Veverl! Sie kommen! Sie kommen!“ – flog wieder hinaus in den Hof, und hinter ihr einher die beiden Kinder. Veverl fuhr in die Höhe, stand regungslos, blaß und zitternd, hörte die näherkommenden Tritte und Stimmen – und jetzt erschienen sie unter der Thüre, der Jörgenvetter und die Marian’, und ihnen voran ein schmucker, strammer Soldat mit blühendem Gesichte, mit lachendem Munnde und glänzenden Augen. Er stand und streckte dem Mädchen die beiden Hände entgegen, und als ihn Veverl noch immer anstarrte ohne Laut und Bewegung, da frug er: „Ja, Veverl! – han – hast denn für mich jetzt gar kein bißl a Grüß Gott!?“

Da rann ein Zittern über ihre Schultern, da warf sie die Arme auf, flog ihm entgegen und hing mit Weinen und Stammeln an seinem Halse.

Mit glückseligen Augen schaute Jörg auf die Beiden, dann winkte er die Mariann’ zu sich, nahm die Kinder bei der Hand und verschwand mit ihnen in der Kammer. Dort beschwichtigte er die drängenden Fragen der beiden Kleinen und begann der Mariann’ zu erzählen, alles, was er nur zu erzählen wußte, und Luitpolds Name klang dabei wohl hundertmal von seinen Lippen.

Als Jörg sich endlich erhob und unter die Stubenthür trat, sah er den Ferdl am Tische sitzen und Veverl an seiner Seite, das Köpfchen an seine Brust gelehnt. Mit leuchtenden Augen schaute sie zu ihm empor, unter den zitternden Worten: „Na! na! Schier kann ich ’s net glauben! Is denn alles auch wahr? Bist denn auch g’wiß a Mensch – a richtiger Mensch?“

„No – schau – man kann ja net wissen,“ lächelte Ferdl zu ihr nieder, „’leicht bin ich dengerst a Geist – und – was meinst? Soll ich verschwinden?“

„Na, na, um Gotteswillen net!“ fuhr Veverl auf in stammelndem Schreck, und wie in ängstlicher Sorge schlug sie die beiden Arme um den Hals des Geliebten – –

Vier Monate später wurde im Dorfe zu einer Doppelhochzeit gerüstet: für Ferdl und Veverl – für Gidi und Emmerenz. Am Morgen der Hochzeit strömten die Leute aus dem ganzen Thale zusammen, so daß die Kirche kaum die Menge zu fassen wußte. Als die beiden jungen Ehepaare unter schmetternden Klängen aus dem Kirchenportale über den Friedhof zogen, stockte plötzlich der Zug – Ferdl und Veverl standen vor Dori’s Grab. Neugierig drängten die Leute näher, reckten die Köpfe und sahen wie Veverl den bräutlichen Rosmarinstrauß, den sie am Mieder trug, mit zitternden Fingern löste und von der ausgestreckten Hand niedergleiten ließ auf den mit welkenden Blumen bedeckten Hügel. Dann schaute sie zu dem Gesichte ihres Mannes auf, als wollte sie ihn mit Blicken fragen, ob sie auch recht gethan – Ferdl nickte ihr zu mit innigem Lächeln und feuchten Augen – und wieder setzte sich der Zug in Bewegung. Und während die Böller krachten, daß die Berge widerhallten, thaten die Musikanten ihr Bestes, bis das mit Fahnen und Tannenkränzen geschmückte Wirthshaus erreicht war, in welchem das Mahl bereitet stand.

Von all den geladenen Gästen waren nur zwei nicht erschienen. Der eine war Herr Simon Wimmer. Der Aufenthalt in dem Dorfe hatte für ihn, wie man so sagt, einen Haken bekommen; er hatte um seine Versetzung nach einem anderen Posten nachgesucht, aie war ihm gewährt worden, und da hatte er seine Abreise gerade auf den Hochzeitsmorgen festgesetzt, ein „Rache-Akt“, durch den er die allgemeine Festesstimmung wesentlich erhöhte.

Aber auch ein Anderer war fern geblieben, den man sehnlichst erwartet hatte und schmerzlich vermißte – Luitpold. Er hatte dem Gidi die herzlichsten Glückwünsche gesandt, und dazu den „gräflichen Förster“ mit entsprechender Gehaltserhöhung. Dem Ferdl hatte er geschrieben, wie gern er gekommen wäre, wenn er nicht gefürchtet hätte, durch die trübe Stimmung, die der Anblick all des vielen Glückes in ihm erwecken müßte, die Freude und den Frohsinn der Anderen zu stören.

Diesem Briefe war ein Brautgeschenk für Veverl beigelegt: der Schmuck, den sie am Halse trug – sechs kleine, blitzende Topase, im Kreis umringt von spitziggeflammten, aus mattweiß schimmernden Perlen gebildeten Zacken – ein Edelweiß mit dreißig Strahlen!


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