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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

führte er die Ziege an der Hand und hatte das Hansei auf der Schulter sitzen. „Da, Veverl, schau, den bring’ ich Dir!“ sagte er und reichte ihr den Vogel, nach dem sie unter stammelndem Danke mit beiden Händen griff. Dann schob er mit sanftem Drängen die Ziege von sich: „Geh’, Zottin, geh’ – kennst dich ja aus daheroben – wirst den Platz schon wieder finden, von wo ich dich g’holt hab’, und leicht auch wieder a bessers Leben, als bei mir hast haben können.“ Er schaute mit feuchten Augen dem Thiere nach, das ihm durch lange Monate Geselle seiner bangen Einsamkeit gewesen. Dann kehrte er sich hastig zu dem Mädchen zurück. „Komm, Veverl, komm – jetzt laß uns gehn!“ Er faßte nach ihrer Hand, die sie ihm willig reichte, während sie mit der anderen ihr Hansei an der Brust gefangen hielt – und so schritten sie thalwärts, dem Ufer des rauschenden Höllbachs folgend.

Das goldige Frühlicht der erwachten Sonne lag schon über den Almengehängen der jenseitigen Berge, als die Beiden aus dem Walde auf die von dünnem Nebel überzogenen Wiesen traten. An einer Stelle, an welcher der Pfad sich theilte, hielt Ferdl inne. Erschrocken blickte Veverl zu ihm auf und ein so seltsam drückendes Gefühl beschlich ihr Herz, als sie in seine ernsten, sorgenvollen Augen schaute.

„Von jetzt an, Veverl, gehen unsere Weg’ auseinander,“ sagte er, und seine Stimme zitterte, „der Deinige geht heim ins Ort, der meinige geht ’naus ins Thal – und führen soll er mich, wohin mei’m lieben Herrgott recht is. Aber – eh’ noch a Tag vergeht, soll der Jörg wieder daheim sein bei seiner Mariann’ und seine Kinder. Leicht dankst mir nachher mit ei’m guten Gedanken – und – wann derfahren solltst, daß Geister Menschen werden, so mußt mir fein net z’ arg derschrecken. Jetzt – b’hüt’ Dich Gott!“

Mit beiden Händen hielt er ihre Hand gefaßt und schüttelte sie unablässig, während ihm die Thränen in die Augen sprangen.

Nun wandte er sich hastig von ihr, taumelte Schritt um Schritt dahin – dann plötzlich wieder kehrte er sich zu ihr zurück. „Vevi, Vevi!“ brach es schluchzend aus ihm hervor, mit ausgestreckten Armen eilte er ihr entgegen und riß sie an seine Brust, mit stammelndem Munde ihre Lippen suchend.

Sie wußte nicht, wie ihr geschah, wußte nicht, daß sie den eigenen Arm mit zärtlichem Drucke um seinen Nacken geschlungen hielt – sie hatte die Augen geschlossen und trank unter Schauer und Zittern die heiße Gluth dieses Kusses in ihre Seele.

Wer weiß, wie lange sie so an einander würden gehangen haben, hätte nicht das Hansei, das zwischen Brust und Brust in drückende Gefangenschaft gerathen war, mit zornigem Krächzen den Zauber dieses Augenblicks gebrochen. Da löste Ferdl seine Arme, nahm Veverl’s Haupt in beide Hände und schaute sie an mit trunkenen Blicken. „Jetzt, Vevi, jetzt kann kommen, was mag!“ jauchzte er, drückte noch einen herzhaften Kuß auf ihre Lippen und stürzte davon, im grauen Nebel verschwimmend und verschwindend.

Veverl stand und starrte ihm nach. Es lag über ihr wie Rausch und Betäubung. Alles Denken war in ihr erloschen – Gefühl war Alles, was in ihr bebte und zitterte – Gefühl des Glückes und der Freude. Der Freude? Worüber? Doch wohl darüber nur, daß jetzt der Jörgenvetter wieder heimkehren sollte zu Weib und Kind? Das war ja beschworen – er hatte es ja versprochen – er, er! Und da fing sie nun doch schon wieder zu grübeln an. Ob es ihm leicht, ob es ihm schwer werden würde, des Jörgenvetters Unschuld an den Tag zu bringen? Und welch ein Wort nur war das gewesen, das er gesprochen hatte? Vom Menschwerden! Aber wie einfach und selbstverständlich war der Sinn dieses Wortes! Unter all den Häschern und Herren vom Gerichte hatte doch Keiner die Königsblume gefunden – und so mußte doch der Alf aus freien Stücken menschliche Gestalt annehmen, wenn er diesen Leuten haarklein auseinandersetzen wollte, wie die Sache mit dem Jörgenvetter stünde. Und nichts, nichts, gar nichts hatte er von ihr zum Danke dafür begehrt. Er hatte sie im Gegentheile noch mit ihrem lieben, lieben Hansei beschenkt und – und hatte – hatte –

Da schrak sie zusammen und fühlte, wie ihr alles Blut zum Herzen floß. Er hatte sie geküßt! Und das wußte sie: ein Geisterkuß tödtet noch in der Stunde, in der man ihn empfangen. Sterben! Sterben! Und sie war so jung! Und die Welt so schön – die Berge, das Thal, der Wald, die Wiesen! Und sterben! Aber – als sie so mitten in der Nacht davongestürzt war, dem Jörgenvetter zuliebe, hatte sie da nicht gleich gedacht, daß – daß – – Umsonst ist der Tod! Und nun gab sie ihr Leben für das, was sie vor einem Augenblick noch umsonst erreicht zu haben meinte. Aber was lag an ihr! Der Jörgenvetter war gerettet! Und – der Tod, der ihr bevorstand, konnte kein schwerer und schmerzhafter sein, das fühlte sie jetzt schon in ihrem Inneren – es war ihr so – so – sie wußte nicht wie! Doch bevor er käme, dieser gute, leichte, süße Tod, sollte doch die Mariann’ noch ihren Trost haben, und sollte erfahren – –

Da fing sie schon zu laufen an, daß ihre Zöpfe sich lösten, daß ihre Röcke flogen und flatterten. Als sie den Finkenhof erreichte, kamen ihr die Kinder entgegengestürmt; um ihren Händen und Fragen sich zu entwinden, überließ sie ihnen das Hansei. In der Stube traf sie die Mariann’; kopfschüttelnd, mit gerungenen Händen kam ihr die Bäuerin entgegen.

„Mariann’, Mariann’!“ jauchzte und schluchzte Veverl. „Mußt nimmer weinen! Mußt nimmer jammern! Ich bin bei ei’m g’wesen, der helfen kann! Und es is auch schon g’holfcn – und der Jörgenvetter kommt wieder heim – morgen, morgen schon – ’leicht heut’ noch am Abend!“

Weßhalb denn fuhr sich die Mariann’ nicht mit den Händen in das Gesicht, um ihre Thränen zu trocknen? Weßhalb denn lachte sie nicht? Weßhalb nicht schlang sie in Dank und Freude die Arme um Veverl’s Hand?

„Mein Gott, mein Gott, Veverl, was hast denn da jetzt ang’stellt!“ jammerte die Bäuerin. „Na, na, was wird mein Jörg dazu sagen! Jetzt is alles, alles umsonst g’schehen – alles für nix und wider nix!“

„Na, net umsonst, Mariann’, net umsonst!“ stotterte Veverl.

„Einer hat ja g’schworen, daß er helfen will – und der hat nie an Schwur noch ’brochen. Du kannst ja net wissen – Du kannst Dir ja net denken, wo ich g’wesen bin!“

„Freilich weiß ich’s, freilich kann ich’s denken! Wo anders wirst denn g’wesen sein, als droben am Berg, im Höllbachg’höhl, beim Jörg sei’m Brudern – beim Ferdl droben!“

Mit leichenblassem Gesichte, wie zu Stein verwandelt, stand das Mädchen und starrte mit entsetzten, gläsernen Augen auf die Bäuerin, die des Jammerns kein Ende fand: „Und jetzt is alles umsonst – das Wunder, wo ihn g’rett’ hat aus ’m Höllbach, das ganze, lange, traurige Leben im G’höhl, alles, alles, was mein Jörg um seinetwegen durchg’macht hat – alles, alles umsonst – und wenn s’ ihn erst haben, den armen Ferdl, nachher b’halten s’ ihn auch und sperren ihn wo ’nein, wer weiß, wie lang – daß er ’s Heimkommen nimmer derlebt! Na, na, was wird mein Jörg – – Veverl, um Gotteswillen, was is Dir denn?“

Veverl’s Lippen gaben keine Antwort mehr. Sie stand, die Hände wider die Brust gepreßt, mit aschfahlen Zügen, mit gebrochenen Augen – jetzt kam ein Zittern und Schwanken über ihren Körper, und ehe Mariann’ mit den Armen die Ohnmächtige aufzufangen vermochte, stürzte sie mit dumpfem Schlage nieder auf die Dielen.

*  *  *

Der Gidi vom Valtl durch die Brust geschossen! Die Jagdhütte niedergebrannt, vom Valtl natürlich! Der Finkenbauer als Schmuggler verhaftet, sicher nur auf die gehässigen Verdächtigungen des Knechtes hin, den der Bauer einst mit Schand und Spott vom Hof gejagt! Das ging wie ein Lauffeuer von Haus zu Haus. Das ganze Dorf war in Aufruhr und Erregung. Und dieser Aufruhr kulminirte im Kopfe des Brennerwastls. Der Bursche schrie sich vor Zorn und Entrüstung die Kehle heiser. Als sich dann das Gerücht verbreitete, daß ein Bauernknecht bei grauendem Morgen durch die Wiesengärten einen Menschen hätte schleichen sehen, der „akrat wie der Valtl ausg’schaut“ hätte, war es für den Wastl eine ausgemachte Sache, daß sich der Valtl im Dorfe verborgen hielte. Er rannte nach dem Stationshause, um seinen Verdacht dem Kommandanten mitzutheilen; der aber hatte sich sofort nach seiner Rückkehr vom Amte mit den beiden Gendarmen zu einer Streife im Gebirge aufgemacht. Nun fing der Wastl ein Hetzen und Schüren an, führte als zweites Wort die allgemeine Sicherheit im Mund, und so gelang es ihm wirklich, eine Schaar von Burschen aufzubringen, die sich nicht übel aufgelegt zeigten, einen Akt der Volksjustiz zu üben. Sie zogen vor

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 867. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_867.jpg&oldid=- (Version vom 6.2.2023)