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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Das waren die beiden Gedanken, die sich jetzt immer wieder ablösten, während er von der einen Seite geschoben und von der anderen gepufft wurde, ohne es recht zu merken.

Und als er drinnen stand im hochgewölbten altersgrauen, weihrauchdurchwehten Raume und in der vielköpfigen Menge sich ein Plätzchen suchte, wo er ungestört weilen und horchen durfte, da gesellte sich noch ein dritter Gedanke zu jenen beiden; er fragte sich: hat dein Betragen Schuld an dem traurigen Ernste, welcher jetzt aus diesen schönen Zügen spricht, die ihn früher nicht kannten?

Da klang die Orgel in weithin gellenden Akkorden, und die Menge rückte sich andächtig zurecht. Die Lichter glänzten am Hochaltar, die Glöcklein klangen, die Priester psalmodirten, und der Weihrauch quoll dichter und immer dichter gegen die Bogen des Querschiffes ansteigend.

Mit einer Spannung, die sich wie herzbeklemmende Angst fühlte, wartete Edgar darauf, aus dem Chore der Sänger eine Stimme auftauchen zu hören, die ihn wie keine sonst in der Welt im Innersten zu rühren verstand.

Tenor und Baß wechselten mit ihren Einzelvorträgen ab. Es dauerte lange, bis ein weibliches Organ sich aus den Chören loslöste.

Edgar stand rechter Hand vom Eingang. Er lehnte sich ans Grabmal Metastasio’s, des fruchtbaren Librettisten der alten kaiserlichen italienischen Oper. Als er den Namen des Dichters vom Steine las, wollte er keinen besseren Winkel sich suchen; er meinte so etwas wie: der Mann, der so viele Opern geschrieben, werde ihm ein Protektor sein, wenn er dies Mädchen, das so viele Opern sang, mit sehnendem Herzen belauschte. Er wußte nicht, daß Bianca längst auf eine Bühnenlaufbahn verzichtet hatte, die ihr einst als der Gipfel aller Wünsche gegolten.

Da, horch! da klang eine weibliche, eine Mezzosopranstimme! Die Leute schienen besser auf diese Stimme zu hören als auf die vorigen. Die Hälse reckten sich, die Köpfe drehten sich, und mehr als ein niedergeschlagenes Auge hob sich jetzt vom Gebetbuch aufwärts gegen den Chor, wo doch keine Menschengestalt frei zu sehen war.

Edgar preßte die Hände fest in einander, als wollt’ er sich an sich selber halten. War das Bianca’s Stimme oder war sie es nicht? Und wenn sie es war, was hatte sie so verändert? Es war ihm, als sähe er einen verdünnten, in hunderttausend goldigen Stäubchen glänzenden Sonnenstrahl, einen von denen, aus welchen die Glorien der Heiligen gebildet werden, gegen den höchsten Himmel schweben, und der wäre es, der so klänge, so wundersam und doch so traurig, so gottbegehrend und doch so gottesvoll. Und es war ihm, als würde dies Emporschweben, dies Gegenhimmelleuchten Ton, als hörte er, was er sähe, und sähe, was er hörte.

Aber unfaßbar blieb ihm, von wem diese Stimme herrührte, die ihn, je länger sie klang, desto ängstlicher ums Herz werden ließ. War das Bianca’s Stimme? Nein, sie war es nicht! Er hatte diese Stimme nie gehört, und er meinte doch, den Klang der alten, wie er die Zimmer der Florianigasse durchschallt hatte, so sicher in treuem Gedächtniß bewahrt zu haben.

Seine Unruhe ward peinlich. Er konnte es nicht lassen, den Ersten Besten, der neben ihm am Monumente lehnte, mit leichter Höflichkeit zu fragen, wer das wäre, der jetzt sänge.

Und der Angeredete, seinen Unwillen über die Störung während der großen Arie … oder über die Störung seiner gottesdienstlichen Andacht kaum verhehlend, antwortete kurz, ohne ihn eines Blickes zu würdigen: „Die Scandrini!“

Es war Edgar wie ein Schlag aufs Herz. Also doch sie!

Und seine Augen wurden feucht. Arme liebe Seele, sprach er im Stillen, wie viel mußt du geduldet und geweint haben! Und vielleicht um mich!

Die Arie wär aus. Die Kenner im Volke sahen sich einander an und drückten die Augen halb zu und nickten kaum merklich mit den Köpfen, wie wenn sie eben einen großen Genuß gehabt hätten. Es war eine Art Applaus mit den Augenwimpern, der der Frömmigkeit nicht den geringsten Abbruch that.

Der Einzelgesang war schon verhallt. Die Orgel schmetterte nun durch den Raum, als sollte die Gewalt ihrer Töne das Gewölbe sprengen. Das war so etwas ganz anderes als die menschliche Stimme, es war, als hätte man den Donner singen gelehrt, und diese Töne der Orgel thaten Edgar weh, als schnitten sie ihm mit Messern durch die Ohren.

Da nun die Pfeifen schwiegen und von der anderen Seite her, wo der Weihrauch immer wieder emporquoll, die zitternde näselnde Stimme eines priesterlichen Greises unverständliche Worte nach uralter Melodie halb sagte, halb sang, war’s Edgar, als spräch’ ihm Jemand in einer unverständlichen Sprache ein hartes, wohlverdientes, unwiderrufliches Urtheil.

Er fühlte sich unpaß, er meinte, es käme wohl von der allzu hastigen Reise, die ihn kopfüber in Geschäftsangelegenheiten nach Wien geführt, oder auch von dem Menschengedränge hier, das ihm den Athem beklemmte.

Er wollte hinaus ins Freie, er machte zwei Schritte nach links, aber er kam an dem Monument nicht vorüber. Es war ihm, als sagte Metastasio zu ihm: Verweile nur, dann hörst du sie noch einmal singen. Ach, nur einmal noch im Leben! Aber das ist doch ein bischen Unbehagen und schmerzhafte Noth werth, die du übrigens redlich verdient hast.

Und richtig, da hub im Credo die durchgeistigte Stimme wieder an, und sie schwoll und schwoll zu einem hinreißenden Strom heiliger Ueberzeugung, als gält’ es Welten zu bekehren und einer Hölle Trotz zu bieten mit Gesang.

Ja, ja, das war sie doch, die Stimme, seine Stimme, die ihn empfinden, tief empfinden gelehrt, die ihn bekehrt hatte von der Eitelkeit der Welt zu inniger Verehrung! Und war doch wieder die Stimme nicht. Es war die Stimme eines gehobenen Wesens, das zu ihm sagen würde: hebe dich von hinnen, Versucher, ich kenne dich nicht!

Ein Theil der Leute schien da der Andacht genug gepflogen zu haben. Sie rückten ab und zogen langsam ehrerbietigen Schrittes dem Portale zu, weil sie entweder das Gedränge nach Ende des Hochamtes fürchteten, oder weil die Scandrini heute nicht mehr singen würde. Vielleicht aus beiden Gründen, wo einer nicht stark genug war.

Gleichviel, die Kirche leerte sich um ein gut Theil ihrer Besucher, und wer wollte, konnte nun unbehindert an den Bänken und unter den Seitenschiffen hinauf- oder hinabgehen.

Aber Edgar mochte sich doch nicht rühren, obwohl der Stein hinter ihm sich recht kalt anfühlte und nichts mehr zu ihm sagte. Aber vielleicht sang Bianca doch noch einmal, und wären es nur ein paar Töne, sie verlohnten des Ausharrens. Er fühlte sich im Willen wie gelähmt. Und wie er so dalehnte, richtete er unwillkürlich die Augen auf einen Jeden, der vorüberging.

Da kam Einer, den er schon von Weitem erkannte, am Schritt, an der Haltung des Kopfes, an seinem klugen, so viele Gedanken verbergenden Gesicht. Hatt’ er ihn doch auch kurz vor Beginn des Gottesdienstes wieder gesehen, seinen alten Widersacher und Freund, den erfindungsreichen Pater Odysseus, Otto Fuchs.

War’s frohe Ahnung, die ihn jählings überkam, war’s Nur ein unbezähmbarer Herzenswunsch, der ihn trieb, er konnt’ es nicht unterlassen, sich bemerkbar zu machen und leise mit dem Haupte nickend zu grüßen.

„Alle guten Geister! Baron Sperber! Sind Sie es wirklich?“ rief der Mönch, und es ging dabei ein Leuchten über seine Züge, das keinerlei Unmuth verrieth, wie er seine Hand so mit beiden Händen packte und ihn mit sanfter Gewalt gegen die Thür und hinaus ins Freie drängte, wo sie besser reden konnten als hier im Gewühl des ins Fluthen gerathenen Menschenstromes.

Aber Pater Otto ließ den Baron auch auf dem Minoritenplatze nicht verweilen, wo es, wie er sagte, der vielen Equipagen wegen nicht geheuer zu stehen war. Edgar fühlte wohl, wie ihn Jener gegen die Herrengasse zog, daß er ihn verhindern wollte, Bianca jetzt zu begegnen. Und Edgar wollt’ ihr auch nicht begegnen, jetzt nicht, in dieser Aufregung nicht, nachdem er sie also wieder singen gehört hatte, nicht; … und wer weiß, wer sie auf dem Heimweg begleitete! und diesen Unbekannten, den er haßte, wollt’ er jetzt auch nicht sehen. Er war seiner selbst nicht sicher genug.

So folgt’ er gutwillig einverstanden, wohin der Pater ihn zog, derweil dieser es an ausdrücklicher Freude nicht fehlen ließ, den guten alten Bekannten so unverhoffter Weise auf Wiener Pflaster zu finden.

Da aber in den engen Straßen um diese Sonntagszeit ein solcher Lärm herrschte, daß man sich seinem Nebenmanne nicht

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