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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Ich trug sie auf meinen Armen die Treppe hinauf, wie ich sie als Kind getragen hatte. Als Line sie mit Maruschka’s Hilfe ins Bett gelegt, da waren ihre Sinne geschwunden, und ein geängstigtes fieberndes Menschenkind schrie um Hilfe, weil sie sich verfolgt wähnte von etwas namenlos Entsetzlichem.

Maruschka setzte sich still ans Bett.

„Es war auch zu jammervoll, Herr Doktor,“ begann sie nach einer Weile. „Die Frau Gräfin hatten selbst einen Schrecken, als sie den Schwiegersohn erblickten; aber, wissen Sie, die Verwandten sollten nun einmal das Kind unter die Haube bringen, und da haben sie ihr zugesetzt mit Reden und Schmeicheleien, und als Alles nichts half, da sagten sie ihr, um der Mutter willen müsse sie es thun. Ach, Herr Doktor, ich weiß Alles; zuerst hat die Mutter den verzweifelten Bitten der Ilse nachgeben wollen, aber wie sie die Güter sah und das Schloß und den Reichthum, da wollte sie nicht, daß die Verlobung zurückgehe. Sie konnte eisern sein. Nun stirbt sie so plötzlich, Ilschen war gar nicht dabei, war mit der Tante und dem Bräutigam auf einem Hofball; sie hat keine Thräne geweint, als sie es erfuhr, sie hat nur die ganze Nacht bei der Leiche gesessen, wie sie da war in dem Ballkleid mit den Blumen im Haar. –

Was dann nach dem Begräbnisse passirt ist, weiß ich nicht, nur das hörte ich von der Kammerjungfer der Tante, am dritten Weihnachtstage solle Ilse ganz still getraut werden, um gleich hinterher mit ihrem Gemahl nach Italien zu gehen. Ob sie ein Wort darum verloren hat, ich weiß es auch nicht. Sie war schrecklich blaß und still. Gestern Abend trat sie plötzlich in meine Stube, im Hut und Mantel, und sagte: ,Maruschka, komm, und nimm Dir ein warmes Tuch, ich habe einen Weg vor.‘ Ich ging selbstverständlich mit; zuerst auf den Kirchhof an das verschneite Grab, dann auf den Bahnhof; ich lief ihr natürlich nach und stieg auch hinter ihr ein -. Ach, Du großer Gott! Was wird das für einen Spuk geben im Hause des Kammerherrn, auf dem Lande und in der Stadt! Nun wissen sie es schon, daß das Komteßchen – davongelaufen ist!“

Das war ja eine schöne Bescherung! Ich sah auf die Alte, ich sah auf die unruhige Kranke – da war sie doch noch, die kleine muthige, tapfere Ilse! Mir fiel die Geschichte ein von der Puppe, und ich mußte lächeln trotz meiner Angst. Ja, so leicht läßt sich ein solches Herz nicht unterkriegen. Bravo, Ilse!

Um Mitternacht, als die Glocken das heilige Fest einläuteten, öffnete ich im Nebenzimmer ein Fenster, und als die vollen Töne herüberschwebten zum Krankenbette, da war die unaufhörlich Plaudernde ruhiger. „Es ist Weihnacht! Daheim!“ hörte ich sie flüstern, und Maruschka’s zärtliche Stimme: „Schlafen, Kindchen! Schlafen, Komteßchen!“ Und als es still ward, schlich die Alte zu mir herum:

„Wird sie sehr krank werden Herr Doktor?“

„Sie ist es schon, Maruschka; Gott gebe das Beste!“ –

„Komteßchen, Sie wollen wirklich eine simple Frau Klauß werden?“

Das sind heute just sechs Jahre her. Ja, die Zeit fliegt! Ich stand vorhin am Fenster und schaute nach der Probstei hinüber. Im Arbeitszimmer vom Ernst brennt noch Licht. Es ist doch die allerhöchste Zeit, meine Herrschaften! Es ist sechs Uhr bereits, und Line wartet nicht gern; die Frau wird immer unruhiger, je älter sie wird.

Jetzt löscht das Licht aus, und jetzt läutet’s schon mit allen Glocken. Da unten geht die Thür auf in der hohen Mauer, ich sehe dunkle Gestalten daraus hervortreten, sind sie’s Alle? – wahrhaftig!

„Line,“ rufe ich, „sie kommen!“

„Ich zünde schon an!“ antwortete Frau Großmama.

Ja, Line ist wirklich noch Großmama geworden, denn Ilse nennt sie „Mutter“, seitdem sie des Herrn Baumeister Ernst Klauß Ehefrau geworden und in unserem Hause Hochzeit gefeiert hat. Ich hätte es freilich nicht geglaubt vor sechs Jahren. Die Ilse war sterbenskrank, aber sie hat Alles überwunden, die Krankheit und den ganzen Spektakel, den ihre Flucht aufrührte. Ein Prachtmädchen! Eine Prachtfrau!

„Ich war nur eine kurze Zeit nicht ich,“ sagte sie damals, als sie meiner Frau unter Thränen die Geschichte ihrer erzwungenen Verlobung berichtete, „aber glauben Sie mir, ich würde noch am Altar ,Nein!‘ gerufen haben, wenn sie mich dahin geschleppt hätten.“

„Weil?“ fragte Line das erregte Mädchen und nahm ihre Hand.

Da wurde sie purpurroth und schlug verwirrt die Augen nieder.

„Ich weiß schon, Ilschen! Es ist die Geschichte von der verschwundenen Puppe.“ Und Line zog das Mädchen an sich und strich ihr sanft über den dunklen Scheitel. „Denkst Du noch immer wie an jenem Weihnachtsabend, Kind?“

Da nickte sie stumm und versteckte das Gesicht in Line’s Schultertuch. Die aber mußte geradesweges hexen können, denn keine achtundvierzig Stunden später zog „Jemand“ an der Klingel; so ganz anders als sonst geläutet wurde – zuerst leise, daß es nur ein schwacher schüchterner Laut ward, aber dann ungeduldig, schier übermüthig.

Wer die Sprache der Glocke versteht, der hätte vielleicht auch – wie ich – gedacht, der Kollekteur schickt die Nachricht, daß wir das große Los gewonnen haben. Es war aber bereits geöffnet, als ich herzukam, und im Flur stand Line ganz solo und sah ihre Stubenthür an. „Könnte ich wohl ein wenig in Dein Zimmer kommen?“ fragte sie, „drüben ist Jemand bei der Ilse.“

„So? Wer denn?“

,O, das wirst Du schon noch erfahren!“ Und sie zog mich mit sich in meine Stube und saß am Fenster und redete kein Wort, bis endlich der „Jemand“ herüber kam, an der Hand das freudenbleiche Mädchen.

Wenn die Weiber nur Ehen stiften können!

„Line, wo hast Du den Jungen denn sogleich hergekriegt? – Komteßchen, Sie wollen wirklich eine simple Frau Klauß werden?“

Und so war es und Beide hatten dazu die größtmögliche Eile. Er hat die Probstei gekauft, und sie als schmuckes Nestchen eingerichtet für seine junge Frau. Natürlich „stilvoll“; darin haben die Herren Baumeister nun ’mal einen kleinen – Pardon! Es sieht ja auch recht hübsch aus, und es sitzt sich gemütlich in dem getäfelten Zimmer am grünen Kachelofen, wenn der Wind an die Butzenscheiben klopft und die alten Ulmen dazu rauschen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 855. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_855.jpg&oldid=- (Version vom 3.3.2023)