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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)


näher an den Schluchtrand stieg, ging Jörg gebückt, als fürchte er die Blicke irgend eines Menschen, den Zufall oder Absicht etwa in die Nähe des Höllbaches geführt hätte. Achtsam setzte er Fuß vor Fuß, und dennoch dämpfte das Rauschen, das aus der Tiefe quoll, kaum das Geräusch seiner Tritte. Der Firnenschnee, der unter Föhn und Sonne zur Frühjahrszeit die brausenden Gewässer durch die Höllbachschlünde ins Thal geschickt, war längst zerschmolzen bis auf wenige, schmutzig graue Felder, auch war seit Wochen kein starker Regen mehr gefallen; der Höllbach nährte sich fast nur noch aus spärlich rinnenden Quellen, die mit Triefen und Rieseln über die steil abfallenden Wände ihren Weg in die dunkle Tiefe suchten. Wenn Jörg auf seinem gefährlichen Pfade das Rinnsal solch einer Quelle passirte, wurde er übersprüht von dünnen Tropfen und weißlichem Wasserstaube. Endlich hielt er an; während er den linken Arm zu besserem Halte in eine Felsschrunde preßte, holte er mit der rechten Hand einen der drei Steine aus der Tasche und ließ ihn niederfallen in den Abgrund.

Hin- und widerprallend von Wand zu Wand, verschwand der Stein zwischen den in einander greifenden Felsgefügen, die den Blick in die Tiefe wehrten; ein Poltern und Kollern folgte, das mit einem dumpfen Klatschen erlosch. Im gleichen Augenblicke warf Jörg den zweiten Stein – dann stand er eine Weile lauschend und rührte wie zählend die Lippen, bevor er den dritten Stein von der ausgestreckten Hand in den Abgrund sinken ließ. Wieder folgte jenes Poltern und Klatschen, doch kaum es verhallt war, schwirrte aus der Tiefe ein klirrender Laut empor; das klang, als wäre dort ein eiserner Stachel heftig wider einen Stein gestoßen worden. Jörg nickte vor sich hin, als hätte er diesen Laut zu hören erwartet, und wandte sich zur Umkehr. Doch wenige Schritte nur hatte er gethan, als ein seltsames Geräusch ihn niederblicken machte in die Tiefe. Unter den überhängenden Felsen kam ein weißer Vogel von Taubengröße hervorgeflattert, setzte sich auf einen von blaßgelben Algen überwachsenen Steinvorsprung, öffnete wie gähnend den Schnabel, reckte schlagend die Schwingen und ließ sich mit krächzender Stimme vernehmen: „Echi, do, do, a do, Echi, Echi.“

„Ja gehst net – gehst – gehst, Du – gscht, gscht, gscht!“ flüsterte Jörg und suchte mit fuchtelndem Arme den Vogel zu verscheuchen. Der aber rührte sich nicht vom Flecke; hurtig wendete er den Hals hin und her, lugte bald mit dem einen, bald mit dem andern seiner kleinen schwarzen Augen zu Jörg empor und plapperte dazu: „Do, Görgi, do, a do, gedegg gedegg.“

Mit ungeduldigen Fingern bohrte Jörg ein Steinbröckchen aus einer morschen Stelle der Felswand und schleuderte es mit scheuchendem Zischen nach dem Vogel; der hüpfte erschrocken empor und ließ dabei seine Stimme vernehmen, daß es halb wie zorniges Gackern, halb wie Gelächter erklang; dann breitete er die weißen Schwingen und schwebte in kreisendem Falle der Felsspalte zu, aus der er emporgeflattert war.

Eine Weile noch lauschte Jörg wie in ängstlicher Besorgniß in die Tiefe nieder, dann trat er den Rückweg an. Als er den Stein erreichte, auf welchem seine Kraxe stand, löste er die Verschnürung derselben, zog einen schweren, mit grobem Tuche umwickelten Pack hervor und schlich mit ihm einer dichten Stelle des Gebüsches zu. Hier hob er von der Erde mit schwerer Mühe eine Felsplatte empor, unter welcher eine kleine Höhlung zum Vorschein kam: in diese legte er den Pack und deckte die Platte wieder darüber. Dann kehrte er zu seiner Kraxe zurück, lud sie auf seine Schultern und folgte mit rüstigen Schritten dem Wege nach der Bründlalm.

(Fortsetzung folgt.)




Römische Cäsaren.
Von Johannes Scherr.
I. Tiberius.


1.

Im Jahre 14 der christlichen Zeitrechnung, am 19. August, ist zu Nola in Campanien Gajus Julius Cäsar Octavianus Augustus gestorben, der Rächer seines von der republikanischen Aristokratie Roms ermordeten Großoheims, der Begründer nicht, aber der Feststeller und Ausbauer der römischen Monarchie. Der nahezu siebenundsiebzigjährige Kaiser – denn er war es, welcher den Namen Cäsar zuerst im Sinne des kaiserlichen Herrschertitels trug – hatte seinen Stief- und Schwiegersohn Tiberius, welcher sich in Brundusium nach Illyrien einschiffte, bis nach Beneventum begleitet und war von dort nach Nola gereist. Hier erlitt er einen heftigen Rückfall in die Dysenterie, welche er sich unlängst durch eine Verkältung in Astura zugezogen hatte, von der er aber während eines Aufenthaltes in Neapel und auf der Insel Capreä, einer Privatbesitzung der cäsarischen Familie, scheinbar vollständig genesen war.

Seine Umgebung erkannte bald, daß es verzweifelt um ihn stände, und die Kaiserin Livia jagte ihrem Sohn Tiberius Eilboten nach, um den muthmaßlichen Thronerben an das Sterbebett des „Herrn der Welt“, des „imperator urbis et orbis“, zurückzuholen. Er kam. Ob aber noch rechtzeitig, ist fragwürdig, wennschon einer der Hauptquellschriftsteller, aus welchen wir, der vielen und nur allzu begründeten kritischen Bedenken ungeachtet, römische Kaisergeschichten schöpfen müssen – Sueton – mit Bestimmtheit versichert, Tiberius habe seinen Stief-, Schwieger- und Adoptivater noch am Leben getroffen und in langem Geheimgespräch die letzten Willensbestimmungen desselben empfangen.

Augustus täuschte sich keineswegs über seinen Zustand und nicht allein mit ruhiger Gefaßtheit, sondern sogar mit heiterer Ironie sah er dem letzten Augenblick entgegen. Dieser Mann hatte ja alles genossen, was die Erde selbst dem kühnsten Begehren zu bieten vermag. Er war einer jener großen Verbrecher der sogenannten Weltgeschichte, –

„Die stört nicht im Innern
Bei lebendiger Zeit
Ruhloses Erinnern
Und vergeblicher Streit“ –

einer jener Weltkomödianten, welche eine Laufbahn voll Frevel und Ruchlosigkeit nur als eine Rolle fassen und führen, deren Text, so bilden sie sich ein, das unwiderstehliche Schicksal selber gedichtet habe. Die Erinnerung an die Myriaden von Menschenopfern, die er der Erlangung und Festhaltung seiner Kaiserschaft dargebracht hatte, beeinträchtigte gewiß nie weder seinen Appetit noch seinen Schlaf. Es ist ihm sicherlich nie eingefallen, seine Füße darauf anzusehen, ob von den Blutströmen, die er durchwatet hatte, um zum Kaiserthron zu gelangen, kein Roth daran haften geblieben. Er nahm sich niemals Zeit zu Gewissensbissen und dergleichen unpraktischem Zeug mehr. Er hatte genug zu thun, gut zu schauspielen. Mit vollendeter Heuchelkunst wußte er den Leuten weiszumachen, das ihnen von ihm auferlegte Joch wäre keins. Seine Monarchie heuchelte immerzu noch die Republik, deren Formen und Formeln er ja bestehen ließ. Im übrigen war diese Monarchie, welche wenigstens Ordnung und Sicherheit schuf, eine Wohlthat. Wie wäre auch in diesem Rom, wie es durch die Gräuel der Zeit des Marius und Sulla, weiterhin durch die Bürgerkriege während der beiden Triumvirate geworden, die Republik, eine wirkliche Republik, noch eine Möglichkeit gewesen? Schon der bloße Gedanke war Narrheit.

Ja, mit Gelassenheit und Humor erwartete der Kaiser das Ende, als ein Mann, der bis in seine Fingerspitzen hinaus überzeugt war, daß mit dem Tod alles aus und vorbei. Konnte der, welcher mit Antonius und Lepidus zusammen die fürchterlichen „Proscriptionslisten“ entworfen hatte, an eine Fortdauer nach dem Tode, an eine jenseitige Vergeltung glauben? Nein. Die Märchen vom Elysium und vom Tartarus, welche der geschmeidige Hofpoet Vergil in so wohlklingende Verse gebracht, waren ja ganz gut als Unterhaltungsfüllsel für müssige Stunden; aber daran zu glauben, das konnte selbstverständlich nur dem Pöbel zugemuthet werden.

Am Morgen seines letzten Tages fragte der zum sterben Bereite, ob man in der Stadt von seinem Zustande Kenntniß hätte und ob sich die Leute darüber beunruhigten. Als man ihm

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 779. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_779.jpg&oldid=- (Version vom 3.12.2020)