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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Freund! Bring’ mich nicht um meinen einzigen Freund! Ja, der bist Du! Wen hab’ ich denn, seit meine arme Mutter draußen liegt, auf dem Währinger Friedhof? Wer sagt mir was, wer giebt mir guten Rath und rechte Lehren? Wer hält was auf mich und sorgt, daß was Rechtes aus mir werde? Niemand! Mein Vater denkt nicht viel an uns Mädeln. Ich bin ihm nur eine, die immer Geld kostet und nicht einmal in der Wirthschaft was nütz ist. Er schaut noch so zu eine Weil, und wenn dann nicht ganz was Besondres aus mir geworden ist, dann wird es heißen: Marsch hintern Herd, Blankerl, und ans Waschfaß! man wird Dir weiter keine Extrawurst braten! Ein rechtes Herz hat er zu keiner von uns. Ja, wenn wir Buben wären und mit in die ‚Blaue Flasche‘ gehen könnten und in den Bezirksverein und in den Gemeindevorstand! Aber so, was fangt er mit dem vielen Weibsvolk an! Und für meine Kunst hat er schon gar keinen Sinn, als etwa den, daß er hofft, sie wird einmal viel Geld tragen. Ich wollt’, wir wären schon so weit!

Die Schwestern … Na, Du kennst sie ja selber. Sind gut und brav und hausbacken über die Möglichkeit. Eine Zeit lang, und derweil die Mutter am Leben war, haben sie mich verzogen und als Wunderkind herumgezeigt; nachher ist ihnen das zu langweilig worden. Ich soll um Gotteswillen ihnen nicht den ganzen Tag die Ohren vollschreien, heißt es jetzt, und nimmt eine von ihnen einen Kochlöffel oder eine Nähnadel in die Hand, so geschieht’s nicht ohne daß ein saueres Wort über die Achsel geworfen wird, die Jüngste könnt sich auch endlich ein wenig in der Wirthschaft rühren.

Ja, schau, sie haben vielleicht nicht Unrecht, aber ich bin halt so ein unnütz Ding, was nichts Andres kann und nichts Andres mag, als singen und Musik machen. Und mit so einem Hanswursten von Frauenzimmer willst Du unter die Protestanten gehn und ein sogenanntes neues Leben ohne Chorrock und Altar anfangen? Es wäre kein besseres, Otto, glaub mir’s! Die Leute thäten uns auslachen. Ich voran. Und Du selber, Otto; es verginge keine Woche, so lachtest Du Dich selber aus. Ich glaub’ aber nicht, daß Dir das wohlthät’.

Geh weiter! Geh in Dich! faß Dich fest ins Auge, wie Du bist, nicht wie Dich ein Rausch von Eitelkeit und Eifersucht verzaubert hat.

Da schau hinein! in den Spiegel da! … Ja, Sapperlot, sperr’ Dich nicht! Hab die Kourage, fest in dem Spiegel da Dein Gesicht anzuschauen! Wenn Du erst wieder weißt, wer der Pater Otto ist und wie er aussieht, dann wirst auch wieder wissen, wie der Pater Otto handeln soll!

So! siehst ihn jetzt? Na, also! … Und siehst die kleine blonde Person da neben ihm? Das ist diejenige, welche die Freundschaft des guten lieben Paters Otto nicht verlieren will, denn sie braucht seine Freundschaft! Und jetzt mehr denn je!

Also, Vetter, auf gute Freundschaft! Fürs ganze Leben! Und die Narrheiten, die Dir durch den Kopf gegangen sind, die schickst heim! Auch fürs ganze Leben! So ists recht!“

Sie streckte dem Manne, der, vor ihr verstummt, einen schrecklichen Kampf mit sich selber kämpfte, beide Hände entgegen und erwartete mit der Sicherheit des Herzens den unfehlbaren Erfolg ihrer Worte.

Pater Otto’s Züge zuckten schmerzhaft durcheinander wie die eines Kindes, das sich des Weinens zu erwehren trachtet. Er war kein Kind und er weinte nicht. Er sah aus tiefen Augen auf das schöne Gesicht vor ihm und fand darin Bestätigung alles dessen, was er eben von diesen Lippen vernommen hatte.

Ja, sie war stark und fest und klug und sie wußte, was sie wollte. Sie liebte keinen Mann, weder ihn noch den guten Edgar. Sie gehörte der Kunst und wollte Niemand Anderem gehören. Wahnsinn, frevelhafter Wahnsinn war es gewesen, auf ihrem frommen weihevollen Weg sich und die Sünde zwischen ihr reines Streben und ihr erhabenes Ideal zu werfen. Versuchung des Teufels! Anfechtung eines Augenblicks!

Ja, nur eines Augenblicks! Pater Otto hatte sich wieder! Aber er war zu bewegt, um irgend etwas sagen zu können. Nicht die Bitten um Verzeihung, nicht die Versicherung treuer Freundschaft, kein Wort, keine Silbe vermochte er zu stammeln. Er beugte sich auf Bianca’s Hände nieder, faßte sie beide und bedeckte sie mit Küssen.

Dann sah er ihr noch einmal in die großen klugen blauen Augen, schüttelte ihre Hände heftig, als gelobte er also mit eindringlicher Gebärde, was er mit Worten auszusprechen noch nicht im Stande war, und wandte sich und stürzte davon.

Bianca schloß hinter ihm die Stubenthür ab. Nicht, weil sie seine Wiederkehr und ein neues Schwanken seiner Entschlüsse fürchtete. Aber sie wollte, sie konnte jetzt mit Niemand Anderem sprechen. Auch mit ihren Schwestern nicht! Was sollte sie diesen antworten, wenn sie sie ausfragten, warum sie so blaß, so aufgeregt aussehe? und was es mit dem Vetter, der wie ein Rasender davon gestürzt war, für eine Scene gegeben habe?

Am Lügen hatte sie keine Freude. Und die Wahrheit, die nicht ihr, sondern Otto’s Geheimniß war und für ewig bleiben sollte, durfte keine Menschenseele von ihr erfahren!

Sie wusch sich Augen, Gesicht und Hände. Sie athmete auf. Und ihr Athmen ward Gesang.

Sie saß am Flügel und sang und spielte sich die Aufregung von der Seele weg und suchte die tausend Gedanken, die um ihr blondes Haupt wie im Wirbelwind, der einen Blumengarten geplündert hat, herumflogen, zu ordnen oder zu scheuchen mit ihren Tönen.

Sie sang stundenlang. Hohes und Tiefes, wie es der merkwürdige Umfang ihrer Stimme gestattete. Arien der Donna Elvira, der Susanne, der Rosina, der Nachtwandlerin, Lieder von Schubert, von Schumann, von Franz ... Sie hatte einen unstillbaren Durst nach Musik. Die Stimmbänder thaten ihr weh, aber ihre Ohren, ihre ganze Seele lechzte nach quellenden Tönen, die ihre Traurigkeit, ihre Bangigkeit überströmen und reinigen und heiligen sollten.

Warum war ihr so bang? warum war sie so traurig? ...

Sie fragte sich selbst und seufzte tief … da klopften ihre Schwestern mit hastigen Fingern an ihre Kammerthür.

„Bianca! Blanche! hörst nit?! … Mach doch um Gotteswillen einmal ein Ende mit dem Geplärr’! Die Nachbarschaft wird schon rebellisch. Die Kinder im ersten und der alte Herr im zweiten Stock können nicht einschlafen.“

„Jawohl, und Du wirst Dir noch heilig und wahrhaftig die Stimme verschreien, wenn Du immer fort Alles durch einander singst vom hohen C bis ins tiefe A. Und stundenlang ohne Aufhören! Es ist ja sündhaft, so auf das Glück loszustürmen, das einem der liebe Gott für sich und die Seinigen anvertraut hat!“

„Ja, und zum Abendessen wär’s endlich auch Zeit. Es wird ja Alles kalt!“

„Bianca! hörst nit?!“

Und sie hämmerten erst recht wider die Thür.

„Ich kann nichts essen!“ sagte jetzt die jüngste Schwester klar und bestimmt. „Vielleicht später! Hebt mir nur was auf!“

„Halt’s wie Du willst!“ rief die Aelteste vor der Thür. „Aber kommst nit herüber?“

„Ich dank schön. Ich will noch studiren für morgen!“

„Aber ganz in der Stille! Gelt ja!“ sprach die jüngere Schwester durchs Schlüsselloch, sonst sagt uns der Hausherr morgen früh die Wohnung auf! Sei so gut, und mach dem Vater die Freud’.“

„Gute Nacht!“ rief Bianca. Und die beiden Andern, die mit den Launen der Jüngsten wieder einmal Geduld haben wollten, gingen zu Tisch. Der Vater war des Abends nie daheim.

Bianca schwieg, die Arme vor der Brust gekreuzt, die Augen auf das Notenblatt über dem Klavier gerichtet.

Aber sie sah nicht, was da geschrieben stand. Ihre Gedanken waren weit weg. Manchmal griff sie leise einen Accord, daß es sanft durch die Stille hallte, wie wenn Elfen sich riefen, die im Mondschein zum Tanze fliegen wollen. Die letzten Blumen, mit denen Edgar sie beschenkt hatte, dufteten stärker und stärker, als wollten sie ihr etwas Dringendes sagen und hätten doch keine Worte zu Gebot, nur den Duft, mit dem sie ihr Dasein verhauchten und den doch die Menschen nicht verstanden, wenn sie nicht guten Willens dazu waren.

Die Sängerin öffnete beide Fenster, so weit es ging. Es war ihr auf einmal so heiß und die Nachtluft wehte wohlig um ihre Stirn. Drunten auf der Straße kam selten Jemand zu solcher Zeit vorüber; ab und an schattenhafte Gestalten, die’s eilig hatten, um noch vor Thorschluß heim zu gelangen und vor dem Hausmeister den Sperrsechser zu ersparen.

Wann er wohl wieder die Straße kommen wird?

Wer? er? … Otto? ...

Bianca schüttelte sich unwillkürlich, aber ihr graute vor Otto. Ihr natürlicher Beschützer hatte sich ihr verdächtig gemacht.

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