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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

etwas Anderes verstand, als den Versuch, die Leiche des Zerschmetterten oder Ertränkten zu finden.

Als es zu dämmern begann, schickte Jörg die Weiberleute nach Hause.

Die sinkende Dunkelheit unterbrach die traurige Arbeit nicht, die hier vonstatten ging; sie wurde beim Scheine lodernder Kienfackeln fortgesetzt; auf allen Vorsprüngen der Schluchtwände wurde dürres Holz gethürmt und entzündet, so daß die hoch aufschlagende Flamme den tiefen Abgrund mit grellrother Helle erfüllte.

Der Versuch, die Absturzstelle unter der hohen Platte von jenem Kessel aus zu erreichen, war mißglückt. Mit wilder Brandung sperrte das aus der Mündung des Höhlenganges stürzende Wasser den Weg. Man schob an langen Stangen brennende Fackeln in die Höhlung; aber so weit der Fackelschein reichte, gewahrte man nur die kahlen, glatt gewaschenen Wände und zwischen ihnen die schwarz und rasend einherschießende Fluth. Man warf von der hohen Platte lohende Scheite in den Abgrund – und immer nach wenigen Sekunden schon kamen die erloschenen Stümpfe im Wirbel des Kessels zum Vorschein. Da schien es keine denkbare Möglichkeit, daß die Leiche im Höhlengange festgehalten worden sein könnte, das Wasser mußte sie längst den tiefer liegenden Kesseln zugeschwemmt haben.

Man eilte von Gefäll zu Gefäll, von Kessel zu Kessel, überall wo ein Niederstieg oder die Einseilung eines Menschen möglich war, wurde das Wasser mit Stangen und Hacken durchwühlt, jede Wandecke und Felsrinne mit unermüdlichen Augen durchforscht. An Stellen, an denen keiner der Holzknechte, nicht einmal Gidi mehr den Weg in die Tiefe wagte, ließ immer noch Dori sich an das Seil knüpfen und in den Abgrund senken.

Die Nacht entschwand, der Morgen kam mit Glühen und Leuchten, und noch immer war keine Spur des Verunglückten gefunden.

Gegen Mittag erreichte man den Kessel des letzten Gefälles, mit welchem der Höllbach den Bergwald verläßt, um hundert Schritte tiefer im Thale mit seiner klaren, gezähmten Fluth das fleißig klappernde Werk der Höllbachmühle zu treiben. Vergebens wurde auch dieser letzte Kessel bis auf den Grund durchwühlt.

Alle, alle hatten gewußt, daß es so kommen würde. Jörg allein hatte es nicht glauben wollen – und er kannte den Höllbach doch eben so genau wie die andern. Vier Menschen hatte das unheimliche Wasser während der letzten zwanzig Jahre verschlungen, nach jedem hatte man gesucht wie jetzt nach dem Ferdl – und nach jedem gleich vergebens. Nur einen von den vieren, einen Holzknecht, hatte die Strömung lange Wochen nach dem Unglückstage an das Wehr der Höllbachmühle geschwemmt, beinahe zur Unkenntlichkeit verstümmelt und grauenvoll zerrissen. – –

Am andern Morgen verließ Jörg das Haus. Alle, die ihm nachsahen, wußten, wohin er ging. Er schlug den Weg zur Höllbachmühle ein.

Draußen auf der Wiese kam ihm der Müller schon entgegen. „Da schau her, Finkenbauer, was ich g’funden hab’, am Wehr, heut’ in aller Fruh,“ sagte er und hielt dem Bauer eine nasse, zerrissene Soldatenmütze entgegen.

Mit beiden Händen griff Jörg darnach, und lange stand er, mit zuckenden, herbgeschlossenen Lippen und starrte mit feuchten Augen nieder auf das blaue Tuch. Dann ging er dem Kessel zu, den der letzte Fall des Höllbaches bildet. Dort stand er wohl eine Stunde und stierte vorgebeugten Leibes in das Wasser, durch dessen krystallene Klarheit der kiesige Grund heraufschimmerte. Tief seufzend richtete er sich endlich empor und schritt am Ufer des Baches dem Wehr entgegen, vor welchem er sich auf den gleichen Felsblock niederließ, auf dem er am verwichenen Tage bis spät in den Abend gesessen. Keinen Blick verwandte er von der Fluth, die mit Murmeln und Gurgeln das Wehr durchströmte, Schaum, Blätter und Reisig aufstauend vor den Stäben des hölzernen Gitters.

Gegen Mittag kam die Mariann’ mit dem Pfarrer. Herzlich und eindringlich redeten ihm die Beiden zu, daß er nach Hause gehen möchte, aber auf all ihre Mahnungen hatte Jörg nur das eine Wort: „Laßt’s mich sitzen – laßt’s mich sitzen!“

Sie blieben bei ihm, bis die Sonne aus rothüberglühten Wolken hinsank über den Grat der Berge.

Wortlos wanderte Jörg zwischen seinem Weibe und dem Pfarrer dem Dorfe zu. Als sie den Finkenhof erreichten, sagte er: „B’hüt’ Gott derweil – ich hab’ noch an Gang zum machen.“

Die Beiden wollten ihn zurückhalten; er aber schüttelte nur den Kopf, wand seinen Arm aus den Händen seines Weibes und eilte davon. Hinter den Häusern des Dorfes stieg er über Wiesenwege dem Schloßberg zu. Als er die Parkmauer erreichte, stand er lange und starrte das Thor an, als widerstrebe es ihm, die steinerne Schwelle zu betreten. Ein Schauer rüttelte seine Schultern als er endlich zögernden Fußes das Thor durchschritt. Er ging an der Mauer entlang dem Jägerhäuscheu zu. Bellend fuhr der Hund ihn an, und aus der Stube hörte er Gidi’s Stimme; der Jäger sprach in raschen erregten Worten.

Jörg betrat den Flur und sah die Stubenthür offen; Gidi und die alte Wirthschafterin des Schlosses standen vor ihm und blickten mit scheu verwunderten Augen den Bauer an. Mit ängstlicher Hast suchte das Weib einen Brief, den es in Händen hielt, in der Tasche zu bergen und huschte, als Jörg die Stube betrat, an ihm vorüber aus dem Hause.

„Finkenbauer – was willst von mir?“ frug Gidi mit stammelnden Worten.

Jörg ging dem Tische zu, schwer sank er auf die Holzbank nieder, während er den Hut vom Kopfe nahm.

„Gidi – verzähl’ – alles – alles und g’nau!“

Der Jäger schien diese Worte nicht zu hören; er stand und starrte mit weit offenen Augen den entblößten Kopf des Bauern an.

„Finkenbauer – o mein lieber Herrgott – wie schaust denn aus? Grau bist worden – über und über grau! Wie kann denn so ’was g’schehen – über a Nacht schier – über an einzige Nacht?“

„So? So?“ murmelte Jörg und strich die zitternden Hände über das Haar. „Ah ja – Alles, Alles kann g’schehen, wann der Herrgott schlafen geht, statt daß er aufpaßt auf sein’ Welt und seine G’schöpfer.“ Mit einem traurig bitteren Lächeln betrachtete er die Innenfläche seiner Hände, wie um zu sehen, ob nicht an ihnen das frische Grau seiner Haare sich abgefärbt hätte. „Aber jetzt – jetzt, Gidi, verzähl’ – verzähl’!“

Und der Jäger begann zu erzählen, die ganze ausführliche Geschichte jenes traurigen Morgens, bis er mit den Worten schloß: „Und wie’s ihn niederg’rissen hat über’s G’steinet, da hat er d’ Arm’ aufg’schlagen und hat Dir g’rad ’naus g’schrieen: Jesus Maria – grüßt’s mir mein’ Jörgenbruder!“

Mit keiner Silbe hatte Jörg die Erzählung des Jägers unterbrochen. Das Haupt zwischen die Schultern versenkt, die zitternden Fäuste auf die Kniee gestützt, so hatte er gesessen und mit brennenden Augen unablässig auf die rührigen Lippen des Jägers geblickt. Nun aber fuhr er schluchzend auf: „Sag’s noch amal – sag’s noch amal!“

„Jesus Maria – grüßt’s mir mein’ Jörgenbruder!“

„Grüßt’s mir mein’ – Jörgenbruder!“ wiederholte der Bauer in stammelnden Worten. „Ich bin sein letztes Denken g’wesen, und mir hat sein’ letzte Red’ noch ’golten! Ja, ja – der hat mich mögen – der hat mich mögen! Und – und weil er a Ehr’ im Leib’ g’habt hat und a Lieb’ im Herzen, drum muß er jetzt drunten liegen, wo kein Sonn’licht nimmer ’nuntersteigt. G’rechtigkeit – ah ja – G’rechtigkeit –“ In unverständlichem Gemurmel verlor sich seine Stimme. Dann erhob er sich mühsam, griff nach seinem Hute, und wieder raunte er vor sich nieder: „Grüßt’s mir – mein’ Jörgenbruder! Ja, Ferdl – ja – den Gruß will ich Dir danken – in meiner Sterbstund’ noch!“ Nun reichte er dem Jäger die Hand. „Gelt, Gidi, mußt net harb sein, daß ich schon wieder geh’, g’rad weil ich g’hört hab’, was ich hören hab’ wollen. Aber weißt –“ eine wilde Bitterkeit quoll aus dem Klange seiner Stimme, „weißt – mich leid’ts net recht, da wo ich steh’ – es is ja Grafengrund – weißt – Grafengrund!“

„Wird auch net schlechter sein wie Bauernboden!“ fuhr Gidi auf.

„Ja, ja – hast Recht – der Boden is der gleiche – aber unter dene, die wo er tragt, is diemal einer anders wie der ander’ – aber – aber reden wir nix – reden wir nix!“ Und wieder schüttelte Jörg dem Jäger die Hand. „Dir, Gidi, Dir sag’ ich kein Vergelts Gott net – wo d’ Lieb’ ’was

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