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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Galgenhumor lange Zeit in Entreprise nahm, bis die fürsorgende Stadtverwaltung dem Treiben sein Ende bereitete.

Dieser Massenandrang läßt den baulichen Boden immer gesuchter und werthvoller werden. Der Hofraum wird immer enger und beschränkter, die „Luftsäule“ immer ausgenutzter. So entstehen die Kellerwohnungen und die Wohnungsräume im fünften Stocke und unterm Dache. In Berlin existirten im Jahre 1881 23 289 Kellerwohnungen mit zusammen 100 301 Insassen; sowie 10 416 Dachwohnungen und 248 Wohnungen im fünften Stocke mit 2941 Einwohnern. So entsteht die moderne Miethskaserne besonders in dichtgedrängten Arbeitervierteln. Während man in Berlin im Jahre 1861 nur noch 167 Häuser zählte, in denen mehr als dreißig Wohnungen sich befanden, war zwanzig Jahre später die Zahl der Grundstücke, in denen mehr als hundert Personen wohnten, schon auf 2786 gestiegen und bei der letzten Volkszählung traf man sogar auf ein Gebäude, das 227 Wohnungen mit 1080 Bewohnern aufwies.

Dies Zusammendrängen vieler Menschen auf einen verhältnißmäßig kleinen Raum bedingt nun aber eine Menge Einrichtungen im Interesse des Verkehrs, der Gesundheit, der Lebensnothdurft und nicht zuletzt des gesteigerten Lebensgenusses. Dies regt den menschlichen Unternehmungs- und Erfindungsgeist auf das Lebhafteste an. Um den Verkehr innerhalb des sich mehr und mehr ausdehnenden städtischen Rayons zu erleichtern, entstanden die verschiedenen Vehikel des Transportes: die Droschke, der Omnibus, die Pferde-Eisenbahn, das Straßenlokomotiv, die Ring- oder Gürtelbahn.

In Berlin, wo ein organisirtes Droschkenwesen seit 1815 existirt, wuchs die Zahl der Droschken fortwährend, obwohl der billigere Omnibus, der im Jahre 1846 aufkam, ihnen einige Konkurrenz machte. Betrug sie im Jahre 1860 noch 999, so war sie im Jahre 1866 bis auf 2200 und im Jahre 1885 bis auf 4344 angewachsen. Im Jahre 1865 wurde in Berlin die erste Pferde-Eisenbahn auf der Strecke vom Kupfergraben nach Charlottenburg angelegt. Die Droschkenkutscher erhoben über das neue spottbillige Verkehrsmittel ein wahres Zetergeschrei. Sie meinten, daß für die Droschke nun das Ende aller Tage gekommen sei. Ihre Furcht war indessen, wie obige Zahlen ergeben, ganz grundlos. Nur die „Omnibusse“ erlitten dadurch einige Beeinträchtigung; ihre Zahl, die im Jahre 1860 noch 393 betrug, ist seitdem bis auf 135 zurückgegangen. Um so rascher dehnte sich das Netz der Pferde-Eisenbahn aus. Die Gesammtlänge seiner Stränge bezifferte sich im Jahre 1883 auf 197 789 Meter. Nach einer Uebersicht vom Jahre 1877 beförderten dort die Pferde-Eisenbahnen in einem Jahre 29 Millionen Passagiere, während auf die übrigen öffentlichen Transportwerkzeuge sich noch über 13 Millionen vertheilten.

Diese Ziffern werden von denen des Verkehrs in London freilich noch bedeutend überragt, denn dort besorgen, abgesehen von den ober- und unterirdischen Straßenbahnen, 50 000 Droschken (Cabs) und 1400 Omnibusse den Straßenverkehr. Diese neuen Mittel des Personentransportes hatten noch den besonderen segensreichen Einfluß, daß sie der Steigerung der Miethzinse im Stadtinnern und der Ausbreitung des Miethskasernenthums einen hemmenden Damm entgegensetzten, da man nun rasch und billig auch aus den entfernteren Stadttheilen nach den Centren des Verkehrs und Geschäftslebens hingelangen konnte.

Je größer die Stadt wurde, desto mehr überwog auch in Bezug auf ihren baulichen Charakter das Interesse des Ganzen das des Einzelnen. Es konnte nicht mehr der Willkür des Bauherrn überlassen bleiben, wie und wohin er bauen wollte. Die Obrigkeit nahm die Sache selbst in die Hand und bestimmte schon im Voraus Regel und Ordnung. In diesem höheren Interesse griff sie wohl mit eherner schonungsloser Hand noch weiter in das schon Bestehende hinein. Sie entfernte finstere Schlupfwinkel, hemmende Ecken, krumme Gassen, dumpfe Gänge, enge Wege, Dinge an denen die alte Stadt so reich war. So bekamen unsere Städte mehr und mehr ein modernes Gepräge. Also beschloß der Berliner Stadtmagistrat 1882 die alte Königsmauer, die Klosterstraße und die Neue Friedrichstraße zu beseitigen, um eine bessere Verbindung des Westens und Ostens mit dem Centrum zu gewinnen. Und welche Opfer dieser Zug des Modernen verlangt, bezeugt der Kostenanschlag für die Anlage der neuen großartigen Wilhelmsstraße im Belaufe von 10½ Millionen Mark.

Eine großstädtische Sorge von nicht geringer Kostspieligkeit bot sich in der verbesserten Herstellung und Reinigung des Straßenpflasters. Seit den Zeiten, da die Bewohner der Stadt noch auf hohen Stöckelschuhen oder Stelzen durch den Koth der ungepflasterten Straßen wandelten, wenn sie reinen Fußes in ein fremdes Haus kommen wollten, und die zahlreiche Gesellschaft der Vierbeiner noch für die möglichste Lockerung der Kehrichthaufen sorgte, sind kaum hundert Jahre vergangen. Dann kam das Straßenpflaster, allmählich von der Innenstadt nach den Vorstädten sich ausbreitend. Gefertigt aus unbehauenen Natursteinen, wurde es in seinen Hebungen und Senkungen oft zum Träger bitterer Schmerzen, bis die neue Zeit den ängstlichen Sparsinn der guten alten verdrängte und die theuern Kosten des Pflasterns mit behauenen Steinen nicht scheute: ein Fortschritt, der wieder durch die Asphaltirung überholt wurde. In Berlin, um auch hierfür ein Beispiel anzuführen, betrug Ende der siebziger Jahre die gepflasterte Straßenfläche gegen vier Millionen Quadratmeter. Seit 1880 begann dort die Einführung des Asphalts zu einer Zeit, als Paris bereits eine Asphaltfläche von 300 000 Quadratmetern besaß.

Der sich steigernde Verkehr bedingt dann wieder eine um so raschere Abnutzung des Pflasters und damit erneute Geldopfer. Man kann dieselbe abwägen, wenn man bedenkt, daß nach einer aufgestellten Berechnung vom Leipziger Platze bis zur Wilhelmsstraße in Berlin durchschnittlich täglich 7000 Fuhrwerke und 43 000 Fußgänger sich bewegen, eine Summe, die sich auf der Londonbridge auf täglich 20 000 Wagen und 200 000 Menschen steigert.

In Städten von noch kleinem Umfange konnte man die Reinigung der Straßen den Hausbesitzern überlassen. Es gab da, das weiß so mancher unserer älteren Lesern noch von seinem Heimathsorte, ein paar bestimmte Tage in der Woche, an welchen der Besen von Hausknecht oder Hausmädchen das Geschäft des Straßenkehrens „bis zur Mitte der Straße“ übernahm. Das Stadtregiment beschränke sich dabei darauf, die angesammelten Kehrichthaufen durch die städtischen „Marställer“ hinwegfahren zu lassen. Mit dem wachsenden Verkehre wurde die Last für den Einzelnen zu groß, die Kontrolle eine zu schwierige, und so sah sich die Stadt genöthigt, die Reinigung selbst zu übernehmen. In welchem Umfange dies geschieht, auch dafür bietet die Reichshauptstadt ein maßgebendes Beispiel. Dort ist nach dem Vorbilde von Paris das Geschäft förmlich organisirt, indem man die Stadt in Kehrbezirke eintheilte. Im Jahre 1876 gab es deren 90 mit 760 ständigen Arbeitern, abgesehen von den namentlich im Winter herangezogenen Hilfsarbeitern, mit besonderen Aufsehern und Oberaufsehern. Durch die Anschaffung von Kehrmaschinen wurde die Zahl der Arbeiter beträchtlich verringert und betrug 1883 nur noch 572. Die Reinigung erfolgt zur Nachtzeit, so daß der erwachende Bürger am Morgen die Straßen schon gereinigt findet und der Verkehr keine Stockung erleidet. Die Kosten dieser Reinigung beliefen sich im Jahre 1883 bis 1884 auf 1 243 683 Mark. Die Besprengung der Straßen ist an Unternehmer vergeben, welchen die Stadt eine Entschädigung von 148 500 Mark zahlt.

Wie jung ist weiter die Entwickelung des modernen Städtewesens in Betreff der Beleuchtung, und wie rasch hat auch hier der Fortschritt sich Bahn gebrochen! Die Zahl der Städte, in welchen die Einführung des öffentlichen Straßenlichts noch in das vorige Jahrhundert fällt, dürfte eine verschwindend kleine sein. Man überließ es dem Einzelnen, sich selber zu leuchten, und begünstigte zu Nutz und Frommen des guten Bürgers dessen nächtliches Daheimbleiben. Dann kam in langsamem Fortschreiten von den größeren zu den kleineren Städten die Beleuchtung durch jene Oellaternen, die an schwankendem Drahtseile über die Straße gesperrt waren, ein Spielball des Windes und des Uebermuths der Straßenjugend. Als die Stadt Leipzig im Jahre 1835 nicht weniger als 245 öffentliche Oellampen einführte, je eine auf 191 Einwohner, erregte diese außerordentliche Leistung weithin im Lande Neid und Bewunderung. Diese mäßige und dabei noch zweifelhafte Beleuchtung wurde durch die Entdeckung des Leuchtgases weit überholt. Kam doch Ende der siebziger Jahre in Leipzig eine öffentliche Gasflamme bereits auf 45 Einwohner, und da die Leuchtkraft einer Gasflamme im Gegensatze zu derjenigen einer Oelflamme eine dreifache ist, dieselbe Lichtstärke wie bei der alten Beleuchtung auf 15 Einwohner.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 742. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_742.jpg&oldid=- (Version vom 31.3.2024)