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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

und da wußte sie sich kaum zu fassen und meinte zu träumen, als sie gewahrte, was geschah.

„Jörg – Jörg!“ stammelte der Bursche und streckte die Hände dem Finkenbauer entgegen, der mit ausgebreiteten Armen auf ihn zuwankte, unter den schluchzenden Worten: „Ferdl – mein Bua – mein armer Bua!“

So sanken sich die Beiden Brust an Brust und hielten sich weinend umschlungen.

Endlich wieder richtete sich Jörg empor, mit zitternder Hand die Augen trocknend. „Komm, komm – komm, Ferdl – komm!“ hastete es über seine Lippen, während er den Bruder mit sich hinauszog über die Schwelle.

Langsam fiel die Thür hinter ihnen zu.

„Jörg – wie kommt das Deandl in mein’ Kammer?“ hörte Veverl den Burschen mit erregter, stockender Stimme fragen. „Wer is das Deandl?“

„’s Veverl – von der ich Dir ja g’schrieben hab’ – ’s Bruderkind von meiner Mariann’. Aber – aber – Ferdl – um Gotteswillen – wie schaust denn aus – wie schaust denn aus?“

„Wie ich halt ausschaun kann – an Tag und zwei Nächt’ – auf solche Weg’, daß mich kein Menschenaug’ net hat dersehen können – g’rad aus über alle Berg, o mein, Jörg – Du weißt noch net Alles – Du weißt net –“

Die Stimme erlosch unter dem dumpfen Halle der über die Treppe niedersteigenden Tritte.

Eine Thür noch hörte Veverl gehen – dann vernahm sie nichts mehr, als nur noch ihre eigenen fliegenden Athemzüge und das hämmernde Pochen ihres geängstigten Herzens.

Noch immer kauerte sie auf den Dielen. Wirre Gedanken kreuzten sich in ihrem Kopfe. Kein Räuber also, kein Einbrecher war das gewesen, sondern der Bruder, der Stolz und die Freude des Jörgenvetter, der Ferdl, den sie wohl in ihrem Leben noch nie gesehen, von dem sie aber seit ihrer Ankunft auf dem Finkenhofe alltäglich hatte sprechen hören und immer in einer Weise, welche gar manchmal die Bäuerin in scherzender Eifersucht hatte beifügen lassen: „Ja – der Ferdl! wenn der kommt, da is aus mit ’m Bauern, da gelten wir Alle mit einander nix mehr!“

Weßhalb nun war er nicht am Tage gekommen, auf offener Straße? Weßhalb in der Nacht – weßhalb durch das Fenster wie ein Dieb oder – oder wie ein Flüchtling? Was hatte er zu fürchten, daß er Wege gehen mußte, auf denen ihn „kein Menschenaug’ net dersehen“ konnte? Was konnte Ferdl verbrochen haben, für den doch, wenn auf ihn im Finkenhofe die Rede kam, das beste Wort nicht gut genug schien? Oder war sein Gebahren nur ein Ausfluß der Verstörtheit, die ja der Tod der geliebten Schwester über ihn gebracht haben mußte? – denn mit diesem jähen Tode, da war etwas nicht in der Ordnung – das hatte das „Kerzengericht“ verrathen – und vielleicht wußte Ferdl um Alles, was da nicht in der Ordnung war, vielleicht hatte er selbst eine Rolle mitgespielt in dieser traurigen Geschichte!

Bei diesen Gedanken suchte sich Veverl auf die Züge des Burschen zu besinnen – aber sie hatte nur eine verschwommene Erinnerung an das blasse Gesicht, dem die Stoppeln des dunklen Bartes ein so verwildertes Aussehen gegeben und das ihr überdies in ihrer Angst und Verzweiflung wie ein entsetzenerregendes Schreckbild erschienen war. Und in Wahrheit hatte er doch gewiß ein gutes, freundliches Gesicht – das wußte sie sich nun gar nicht anders zu denken. Wie thöricht war ihre Angst gewesen! Er war ja wohl ebenso sehr vor ihr erschrocken, wie sie vor ihm. Er hatte ja nicht wissen können, wen er in der Kammer vorfinden würde – in seiner Kammer. Da war ja in Wirklichkeit nicht er der Eindringling, sondern sie selbst. Und dennoch war kein rauhes Wort über seine Lippen gekommen – und wohl mit unwiderstehlicher Kraft, doch nicht mit roher Gewalt war es geschehen, als er sie gehascht hatte, um sie an seiner Brust gefangen zu halten.

Und da schlug sie jählings die beiden Hände vor das Antlitz und brach in heftig erströmendes Schluchzen aus.

Lange, lange währte es, bis ihre Thränen versiegten. Sie richtete sich empor und begann sich anzukleiden – und sie wußte kaum, daß sie es that, noch weßhalb sie es that.

Als sie angekleidet war, stand sie lange inmitten der Kammer, vor sich nieder starrend, die Hände auf das pochende Herz gepreßt.

Nun horchte sie auf; aus der Stube herauf hörte sie wie dumpfes Murmeln die wechselnden Stimmen der beiden Brüder – im gleichen Augenblicke aber stieg es ihr heiß in die Wangen: sie lauschte! Hastig wollte sie die halb offene Thür schließen – aber der Riegel war ja abgesprengt.

Zitternd am ganzen Leibe setzte sie sich auf den Rand ihres Bettes.

Vom Hofe herauf tönte das Heulen und Bellen des Hundes, der unablässig mit den Pfoten an der Hausthür scharrte und kratzte – und nun hörte das Mädchen, wie Jörg in den Flur trat, um das ungeduldige Thier einzulassen, das mit freudigem Gewinsel in die Stube sprang. Sie hörte, wie der Vetter das Haus verließ – und ein Geräusch verrieth ihr, daß er vor den Stubenfenstern die Läden schloß. Eine stumme Weile verstrich – dann wieder ließen sich die Schritte des Bauern vernehmen, der ab und zu ging in Küche und Keller.

Nun schrak das Mädchen in sich zusammen – aber nein, das waren ja nicht die Schritte des Anderen, das waren die Tritte des Bauern, die da über die Treppe empor geeilt kamen.

Jörg trat ein — ohne Licht; er schien sich einem der Schränke nähern zu wollen; plötzlich aber ging er auf das Mädchen zu – und Veverl fühlte, wie die Hand zitterte, die sich schwer auf ihre Schulter legte.

„Arms Deandl – gelt – bist recht derschrocken!“ hörte sie ihn sagen – und hätte Veverl den Jörgenvetter nicht so genau erkannt, sie hätte glauben müssen, ein Fremder stünde vor ihr, so verändert und tonlos klang diese Stimme. „Aber gelt – Veverl – gelt – mußt ja nix Args net denken – weißt – Unglück is Alles – Unglück – Unglück! Und schau – Veverl – bei Deiner Lieb’ zu Dei’m seligen Vaterl ― verrath’ kei’m Menschen ’was von Dem, was derlebt hast – heut’ in der Nacht. Du – Du darfst mein’ Ferdl net g’sehen haben – mit kei’m Aug’ net – gelt – gelt, Du verstehst mich schon.“

Der grenzenlose, unsagbare Jammer, der aus dieser gebrochenen Stimme sprach, that ihr in tiefster Seele weh. Sie vermochte keine Antwort zu geben – sie nickte und nickte nur immer mit dem Kopfe.

Jetzt wandte sich Jörg dem Schranke zu, riß ihn auf mit ungeduldigen Händen, belud seinen Arm mit verschiedenen Kleidungsstücken, und taumelnd wie ein Trunkener verließ er die Kammer.

Veverl saß auf dem Bette; es lag über ihr wie eine Lähmung; sie hatte keine Gedanken mehr; sie weinte nur.

Ob es Minuten, ob es Stunden waren, die ihr so verstrichen, sie wußte es nicht – es war ihr nur plötzlich, als hätte sie Tritte über den Kiesweg knirschen hören, der unter ihrem Fenster vorüber führte. Unwillkürlich sprang sie auf, um die noch immer offen stehenden Scheiben zu schließen – und da hörte sie unter sich eine flüsternde Stimme:

„Er ischt drin – er ischt drin –“

Ein einziges Mal erst hatte sie diese Stimme gehört, und dennoch errieth sie ohne Mühe den Sprecher. Eine Sekunde nur stand sie in zitterndem Schreck, dann huschte sie aus der Kammer. Pochenden Herzens verhielt sie vor der Stubenthür den Fuß. Schluchzende Worte schlugen von da drinnen an ihr Ohr.

„– – und wenn mir zehnmal sagst: ich versteh’s, ich versteh’s, und mir wär’s auch net anders ’gangen – es is ja doch so fürchtig, so fürchtig, a Menschenleben auf sei’m G’wissen z’ haben – und er g’rad – er – dem ich so gut war von ganzem Herzen! Aber es is über mich ’kommen, daß ich net g’wußt hab’, wie – und erst, wie er dag’legen is vor mir, übergossen von Blut –“

Mit schaudernden Sinnen drückte Veverl die Klinke nieder und wankte in die Stube. Sie wagte die Augen nicht zu erheben; zitternd stand sie, das Kinn auf der Brust, und sprach in stammelnden Worten von der flüsternden Stimme, welche sie gehört.

„Jesus Maria!“ stöhnte der Bauer. „Ferdl – Ferdl – fort – fort aus ’m Haus – da – da is der Rucksack – Alles is drin – Geld, G’wand und Essen – verhalt’ Dich an kei’m Platzl net – morgen am Abend mußt über der Grenz’ sein – fort – fort – in die hintere Stuben – und durch d’ Milchkammer ’naus –“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 739. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_739.jpg&oldid=- (Version vom 20.12.2022)