Seite:Die Gartenlaube (1885) 738.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Jörg richtete sich empor und fuhr sich über die Augen. „Geh’ – geh’ – Veverl – geh’ jetzt schlafen! Es is schon spat – und – und morgen – und morgen müssen wir ja Alle früh in d’ Höh’.“

„Na, Jörgenvetter! Wie könnt’ ich denn schlafen jetzt und g’rad’ so Du! Mir kannst es ja sagen – gelt – bist doch net gern allein jetzt? Schau - laß mich bei Dir bleiben!“

„Na, mein liebs Deandl, na, na! Leg’ Dich nur schlafen. Und da streckte er ihr die Hand entgegen, „und gelt – wann mir und meine Kinder gut bist, nachher – nachher sagst von wegen der Hanni zu kei’m Menschen so a Wort, wie vorhin g’rad zu mir. Versprich mir’s, Veverl – gelt?“ Fast versagte ihm die Stimme bei diesen Worten.

„Ja, Jörgenvetter, ich versprich’s!“ stammelte Veverl. Dann entzündete sie den Wachsstock und nachdem sie die Finger in den Weihbrunnenkessel neben der Thür getaucht und Stirn und Brust mit dem geweihten Naß besprengt hatte, verließ sie mit leisem „Gut’ Nacht!“ die Stube.

Lautlos stieg sie draußen im Flure die Treppe empor und betrat ihr Kämmerchen. Der kleine Glasschrein mit dem wächsernen Jesukinde, das von Goldleisten umrahmte Spiegelchen, die Schachteln und Schächtelchen und manch anderer Kram, womit die bunt bemalte Kommode bestellt war, verrieth, daß ein Mädchen die Kammer bewohnte, die im Uebrigen durchaus nicht das Aussehen einer Mädchenstube zeigte. Da hing an einem Wandhaken eine Büchse mit einem Bergstocke und drüber eine Cither, von welcher einzelne gesprungene Saiten niederschwankten; an einem anderen Haken hing ein Raupenhelm über einem kurzen Säbel mit schwarzlederner Kuppel. Soldatenphotographien in zierlich geschnitzten Rähmchen schmückten die weißen Wände.

Als Veverl die Kammer betrat, öffnete sie das Fenster, das gegen den Garten ging. Dämmeriger Mondenschein lag über dem Gehänge. Ueber die hochliegenden Wiesen huschte ein Etwas dahin, das sich ansah wie ein vor dem Nachtwinde treibender Nebelstreif. Veverl aber wußte das besser – das war die Hulfrau, die zu nächtiger Zeit im grauen Nebelkleide über die Wiesen schwebt, aus ihrem Wunderkrüglein den Thau ausgießend über die durstigen Gräser und Blumen.

Veverl begann sich zu entkleiden; dann knieete sie vor dem Jesuschreine nieder und verharrte lange in stillem Gebete.

Schon wollte sie sich zur Ruhe legen, als sie ganz erschrocken vor sich hinflüsterte: „Ja, wie ich nur so ’was hab’ vergessen können!“

In dem kurzen, dünnen Röckchen und barfuß, wie sie war, eilte sie aus der Kammer und hinunter in die Küche. Als sie wieder zurückkehrte, trug sie eine Schale mit Milch und ein weißes Brot in Händen. Sie schritt an ihrer Kammer vorüber und öffnete eine Thür.

Nun stand sie in Hanni’s Stube. Matt erleuchtete das flackernde Wachslicht in ihren Händen die mit mannigfachen Schnitzereien geschmückten Wände und Schränke, den Schreibtisch mit seinem Bücherregale, das weißverhangene Bett und das Klavier, an welchem der Deckel geöffnet und das Pult mit Noten bestellt war, als hätte eben erst die Spielerin den Stuhl verlassen.

Veverl stellte, was sie in Händen trug, auf den Tisch nieder. Dann öffnete sie die beiden Fenster. Als sie zum Tische zurückkehren wollte, war es ihr, als hätte eine dünne, lispelnde Stimme ihren Namen gerufen. Lauschend stand sie, unter tiefen Athemzügen, und blickte hinaus in das dunkle Gezweig der Kastanie, die ihre Aeste hoch empor über das eine Fenster recte. Sie hörte nichts mehr; die kühle Nachtluft nur durchstrich mit sanftem Hauche die Stube. Nun griff sie nach dem brennenden Wachse und da huschte ein Etwas mit summendem Schwirren um ihr Haupt; erschrocken hob sie die Augen; doch gewahrte sie nichts. im gleichen Augenblicke aber ging ein raschelndes Klingen durch die Saiten des Klaviers.

„Alle guten Geister loben Gott den Herrn!“ flüsterte das Mädchen, die Stirn bekreuzend; die Stimme bebte ihr nicht bei diesen Worten; ihre Augen leuchteten, und wie ein glückliches Lächeln lag es auf ihren Lippen, während sie innig und leise vor sich nieder raunte:

„Arme Seel’, thu’ Dich speisen,
Arme Seel’, thu’ Dich tränken,
Dein’ Reis’ is lang,
Dein Weg is drang,
Unser Herrgott soll Dich führen in Gnad’
Und Dir sein ewig’s Leben schenken.“

Nun trug sie die Schale mit der Milch und das weiße Brot nach dem Fenstergesimse, warf noch einen Blick hinaus in das dunkle Gezweig und verließ die Stube.

Als sie die Thür hinter sich abschloß, tönte rascher Hufschlag an ihr Ohr. Sie eilte an das Flurfenster und sah die dunkle Gestalt eines Reiters auf der Straße vorüberfliegen. Wer war dieser Reiter? Vielleicht der Billwizschneider? Aber nein – der waizt ja nur zur Zeit der Kornreife, reitet auch nicht auf einem Pferde, sondern auf einem schwarzen Bocke – und dann, es kann ihn ja nur Jener erblicken, der einen verwachsenen Maulwurfshügel auf dem Kopfe trägt. Wer war dieser Reiter? Vielleicht der wilde Jäger? Aber nein – der treibt ja nur in den Freinächten seine gespenstige Hatz, und niemals allein, immer begleitet von dem johlenden, tobenden Gejaide.

Wer war dieser Reiter? Lange noch, als Vevert schon in den Kissen lag, hielt diese Frage ihre Augen wach.

Als sie entschlief, träumte sie, die arme Seele der Hannibas’ säße vor ihrem Bette, das Milchschüsselchen im Schoße, das weiße Brot in den durchsichtigen Händen; sie hatte so traurige Augen und sieben blutige Wundmale auf der Brust; als sie gegessen und getrunken, erhob sie sich und beugte sich über das Lager, um das Mädchen zu küssen, ein eisiger Hauch entströmte dabei ihren bleichen Todtenlippen.

Darüber erwachte Veverl und immer noch spürte sie jenen kalten Hauch auf ihren glühenden Wangen; es war die Nachtluft, welche durch das offene, vom Mondschein hell erleuchtete Fenster strich.

Schon wollte sie wieder die Augen schließen, als dicht unter ihrem Fenster der Hofhund heftig anschlug. Veverl meinte zu hören, wie eine leise, fremde Stimme den Namen des Hundes rief und da verstummte jählings das laute Gebell und wurde zu freudigem Gewinsel. Veverl wollte sich erheben, um aus dem Fenster zu blicken – nun plötzlich aber vernahm sie ein Knistern und Rascheln, das an der Mauer emporzusteigen und dem Fenster sich zu nähern schien – und jetzt – das Mädchen erstarrte vor Angst und Schreck – jetzt tauchte im mondhellen Fenster eine Soldatenmütze empor, ein Kopf mit einem leichenblassen Gesichte, Schultern und Arme rückten nach, und zwei Kniee hoben sich auf das Gesimse. Lautlos zwängte sich der Bursche durch das enge Fenster und ließ sich niedergleiten auf die Dielen. Von dem Soldatenkleide, das die schlank und hochgewachsene Gestalt verhüllte, hingen die Fetzen, und unter dem offenen Rocke hervor starrte die nackte Brust durch das zerschlissene Hemd.

Vergebens rang das Mädchen in seiner Angst nach Athem und Worten; ihre Glieder versagten den Dienst, und es war ein Fühlen in ihr, als wäre das Blut ihr zu Eis geronnen. Doch als die Gestalt sich nun vom Fenster löste und dem Lager sich nähern zu wollen schien, brach die gesteigerte Angst den Bann, der das Mädchen gefesselt hielt – und unter dem gellenden Aufschrei: „Räuber – Räuber!“ sprang es aus den Kissen, die nackten Arme wie zum Schutze emporschlagend über das Haupt.

Erschrocken fuhr der Bursche in sich zusammen, wie vor einem Ungeahnten, Unerwarteten. „Ja – was is denn – um Gotteswillen Deandl – ich bitt’ Dich – sei stad, sei stad!“ stammelte er mit heiser bebender Stimme und haschte die Arme des Mädchens, das unter schrillenden Hilferufen der Thür zuflüchten wollte.

Veverl’s Schreie erstickten unter der Hand, die sich auf ihre Lippen preßte, und ihre ringenden Kräfte erlahmten unter dem starren Drucke des Armes, mit dem der Bursche den zarten, zitternden Körper des Mädchens an seine Brust geschlungen hielt.

Die Sinne drohten ihr zu vergehen – aber neu erwachten ihr plöglich die Kräfte, als sie die Schritte vernahm, welche draußen über die Treppe empor gehastet kamen. Es gelang ihr, das Gesicht frei zu ringen, und gellend schrie sie auf: „Hilf – Jörgenvetter – hilf — hilf —“

An der Thür knirschte die Klinke – aber es war ja von innen der Riegel vorgeschoben; doch unter wuchtigem Drucke klirrte das Eisen auf die Dielen, und Jörg erschien über der Schwelle, umzittert von dem Scheine des Lichtes, das draußen auf der obersten Treppenstufe stand.

Da gaben die Arme des Burschen das Mädchen frei, das zitternd in eine Ecke flüchtete, bangend vor dem Kampfe auf Leben und Tod, der ihrem Fürchten nach ja nun beginnen mußte –

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 738. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_738.jpg&oldid=- (Version vom 20.12.2022)