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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Ein einziges Mal nur hatte sie die „Hannibas’“ gesehen: das war im vergangenen Winter gewesen, da war die Finkenbäuerin mit der Hanni für einen ganzen Tag im Waldhause eingekehrt. Aber für Hanni’s liebes, freundliches Wesen hätte es keines ganzen Tages bedurft, da hatte eine Stunde genügt, um Veverl’s Herz zu gewinnen.

Wie hatte sich Veverl da in den letzten Tagen auf Hanni’s erwartete Heimkehr gefreut! Und nun!

Nun verstand sie auch, was sie wie eine unbegreifliche Kränkung empfunden hatte, als sie kurz nach dem Ausgang des Bauern den Kranz, den sie mit so liebevoller Freude um das „Willkommen“ gewunden, in der Herdflamme hatte verkohlen sehen.

Lange, stille Minuten verrannen – immer noch stand Veverl regungslos vor dem Tische. Und als sie endlich hätte sprechen mögen, da schloß ihr der Anblick des Bauern die Lippen, der da vor ihr saß, mit so gramvollen Zügen, stumm versunken in seinen Schmerz.

Mit zitternden Händen räumte sie den Tisch und nahm das Geschirr auf die Arme, um es in die Küche zu tragen. Als sie nach geraumer Weile wieder in der Stube erschien, legte sie vor sich auf den Tisch ein schmales Brettchen und einen rothen Wachsstock. Aus dem dünngezogenen Wachse schnitt sie kleine Kerzen von verschiedener Größe, die sie der Reihe nach auf das Brettchen klebte, so daß die kürzeste den Anfang, die längste den Schluß bildete. Dabei sprach sie keine Silbe, doch unablässig bewegten sich ihre Lippen, und in ihren thränenerfüllten Augen glomm ein schwärmerisch heiliger Ernst.

Wortlos ließ Jörg sie gewähren, obwohl er den Sinn und Zweck ihres Gebahrens nicht verstand. Er mochte sich wohl denken, daß sie wieder einmal einen jener seltsamen Bräuche übe, die der Vater im Waldhause sie gelehrt hatte. Und was die Kerzen zu bedeuten hatten, meinte er aus ihrer Zahl errathen zu können – zwanzig – es war die Zahl von Hanni’s Jahren.

Jetzt hob Veverl das Brettchen auf die schmale Brüstung des kleinen Hausaltars, der im Herrgottswinkel unter dem Krucifixe angebracht war – und während sie mit dem brennenden Wachsstocke die Kerzlein entzündete, raunte sie leise vor sich hin:

„Licht is Gottes Gab’,
Leben is Gottes Gnad’ –
Wie Du ’s Licht uns ’geben,
Wie Du g’schaffen das Leben,
Verlöschen Licht und Leben auch,
Herr Gott, vor Deinem Hauch.
Aber Du thronst in Allgütigkeit
Und richten thust nach G’rechtigkeit!
Herr Gott über Himmel und Höll’,
Sei gnädig der armen Seel’.“

Bei dem letzten Worte hatte sie die letzte Kerze entzündet. Mit sachtem Hauche löschte sie den Wachsstock, dann knieete sie vor dem Tische nieder, in stillem Gebete die Hände faltend, keinen Blick ihrer schwärmerischen Augen verwandte sie von den zuckenden Flämmchen. Es währte kaum eine Minute, da war das erste Kerzlein niedergebrannt – und als das bläuliche Licht in dem zerschmolzenen Wachse knisternd erlosch, sprach Veverl mit innig bewegter Stimme die Worte:

„Wie ’s Licht, lauter und klar,
So lauter von Sünden
Wird der liebe Herrgott finden,
Arme Seel’, Dein erstes Jahr.“

Wieder versank sie in stilles Gebet – und wieder sprach sie, als das zweite Licht erlosch:

„Wie ’s Licht, lauter und klar,
So lauter von Sünden
Wird der liebe Herrgott finden,
Arme Seel’, Dein zweites Jahr.“

So brannte Kerzlein um Kerzlein nieder – und jedes Mal beim Erlöschen eines Flämmchens wiederholte Veverl diesen Spruch mit steigender Zahl des Jahres. Je weniger der Kerzlein wurden, desto mehr erwachte in ihren Zügen der Ausdruck einer tiefinnerlichen Erregung. Die Wangen begannen ihr zu glühen, der feuchte Glanz ihrer Augen wurde zum Leuchten, hastiger und hastiger bewegten sich bei den stummen Gebeten ihre Lippen, ein leises Zittern kam über ihre gefalteten Hände – und wenn sie ihr Sprüchlein sagte, da war es nicht Trauer mehr, da war es fromme Freude, was aus dem Klange ihrer bebenden Stimme sprach.

Als das drittletzte der Kerzlein erloschen war, schmiegte sie, keinen Blick von den zwei noch zuckenden Flämmchen verwendend, das Köpfchen an die Schulter des Bauern, der lange schon neben ihr auf den Dielen knieete – und flüsterte: „Jörgenvetter – wie brav und fromm muß d’ Hannibas g’wesen sein!“

Mit keiner Silbe, nicht einmal mit einem leisen Nicken des Hauptes erwiderte Jörg diese Worte. Brennenden Blickes starrte er zu dem zitternden Lichtschein empor, während qualvolle Unruhe sich in seinen Zügen malte.

Anfangs hatte er mit zerstreuten, dann mit staunenden Augen das Gebahren des Mädchens verfolgt. Aber die rührende Innigkeit, die aus Veverl’s Blicken und Worten sprach, das Mystische des ganzen Vorganges, der Anblick der brennenden Kerzen, deren röthliche Flammen grelle Lichter und zuckende Schatten über das Krucifix und sein aus weißem Holze geschnitztes Bildniß warfen, das unter diesem Widerspiele von Licht und Schatten zu leben und sich zu bewegen schien – das Alles mochte in seinem von Schmerz durchzitterten Gemüthe eine Stimmung erweckt haben, die ihn unwillkürlich an die Seite des Mädcheus gezogen und niedergezwungen hatte auf die Kniee.

Nun wieder erlosch ein Flämmchen – und wie in verhaltetem Jubel klangen die Worte des Mädchens:

„Wie ’s Licht, lauter und klar,
So lauter von Sünden
Wird der liebe Herrgott finden,
Arme Seel’, Dein neunzehntes Jahr.“

Noch aber war das letzte Wort ihren Lippen nicht entflohen, als sich aus der Höhe des Herrgottwinkels ein leises Rascheln vernehmen ließ. Einer der geweihten Palmzweige, welche den frommen Schmuck des Krucifixes bildeten, hatte sich losgelöst, glitt zwischen der Wand und dem Kreuzholze hindurch und schlug mit der Spitze auf das Brettchen nieder, so daß das letzte noch brennende Kerzlein seinen Halt verlor, über die Brüstung des Altares kollerte, im Fallen erlosch und qualmend über die Tischplatte auf die Dielen rollte.

Erblaßt bis in die Lippen sprang das Mädchen auf und stammelte, zitternd am ganzen Leibe: „Heiliger Himmel – Jörgenvetter – d’ Hannibas’ is net g’storben nach Gottes Rath und Willen – da – is ’was net in der Ordnung – oder – oder a Mensch is schuld an ihrem Tod!“

Mit offenen, glasigen Augen starrte Jörg auf das Mädchen, während er sich mühsam emporrichtete.

„Wie kannst so ’was sagen. so ’was sagen!“ stotterte er mit heiserer Stimme.

„Ja, ja – sonst wär’ das letzte Kerzl niederbrennt – g’rad’ wie die andern –“

„Ah was – ah was – Dummheiten – Dummheiten – d’ Hitz’ von die vielen andern Lichter hat’s verschuld’t – da hat sich d’ Wieden[1] g’lockert –“

„Um Gotteswillen – Jörgenvetter – so mußt net reden –“ schluchzte das Mädchen mit angstvollen Augen zu Jörg emporstarrend, „das Wachs is g’weiht am Ostersonntag – und – und ’s Kerzeng’richt lügt net – da wacht unser Herrgott drüber – mein Vaterl hat’s g’sagt – mein Vaterl hat’s g’sagt –“

Jörg antwortete nicht, in sich versunken stand er da, seine Züge waren schlaff, und müde starrten seine Augen.

Weinend bückte sich das Mädchen, hob die halbverbrannte Kerze vom Boden auf und legte sie mit zitternder Hand auf den Tisch.

Aufseufzend griff Jörg nach dem rothen Wachse und drehte es hin und her zwischen seinen Fingern, dann plötzlich warf er es zurück auf den Tisch, und niedersinkend auf die Holzbank barg er das Gesicht in beide Hände unter den schluchzenden Worten: „Mein’ Hanni! Mein’ arme, arme Hanni!“

Hastig trat Veverl auf ihn zu und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Jörgenvetter – geh’ – mußt net weinen,“ bat sie mit herzlicher Stimme, während ihr doch selbst die Thränen über die Wangen rannen, „weißt – so ’was verspürt die arme Seel’ – das thut ihr weh.“

  1. Die dünne Weidenruthe, mit welcher die geweihten Zweige zu einem Bündel gebunden werden.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 735. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_735.jpg&oldid=- (Version vom 8.8.2022)