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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

das Kind mit sich in den Wald, wo es unter der Rindenhütte seine stillen, bescheidenen Spiele trieb, während draußen der Vater arbeitete; zur Mittagsstunde schob er ihm auf dem selbstgeschnitzten Holzlöffelchen die einfache Kost in das kirschrothe Mündchen, dann aber nahm er sein Veverl auf die Kniee, lehrte es die Thiere kennen, nannte ihm die Namen der Pflanzen und Steine und plauderte zu ihm von dem geheimnißvollen Leben, das nach seinem Glauben in ihrem Innern webte. Pünktlich nach einer Stunde nahm er die Arbeit wieder auf – aber wenn sie des Abends nach Hause kehrten, setzten sie sich auf die Holzbank unter den rauschenden Tannen, und dann wiederholte sich das gleiche, freundliche Spiel. Der Winter vereinigte die Beiden in der traulichen, behaglich durchwärmten Stube, denn da arbeitete der Vater zu Hause, und während er vor seiner Werkbank saß und aus den weißen, astlosen, geschmeidigen Tannenbrettchen die verschiedenartigsten Schächtelchen und Schachteln sägte, übertrug er bei all dem stundenlangen, zärtlichen Geplauder in das Herz seines Dirnleins, das ihm nach Kräften bei der Arbeit an die Hand ging, sein ganzes Träumen, Sinnen, Fühlen und Glauben.

Täglich zur Mittagsstunde traten sie vor die Thür, wo der tiefe Schnee, der den Grund und die Bäume deckte, wo der zu Eis erstarrte Bergbach im kurz währenden Sonnenschein funkelte. Dann streute das Kind den frierenden Vöglein Nahrung, während der Vater über eine von Schnee entblößte Stelle ein Bündel Bergheu schüttete, zur Aesung für das Wild, das vom Morgen an in Rudeln das kleine Haus umstand, der Stunde harrend, zu der die niedrige Thür sich öffnete. So schwand den Beiden Tag um Tag; das Ausbleiben des Wildes war für sie das erste Anzeichen des nahenden Lenzes, bald kamen mildere Tage, die den Schnee die wachsende Kraft der Sonne verspüren ließen – dann aber hub ein Stürmen und Tosen an rings um das kleine Haus, der schwüle Föhnwind brauste durch den steilen Tann, daß die Bäume ächzten und die Erde schütterte, und von den felsigen Höhen nieder grollten die dumpfen Donner der stürzenden Lawinen. Das Stürmen vertoste, klare Bläue wölbte sich über Berg und Thal, bei Veilchenduft und Vogelsang erwachte der Lenz – und wieder zogen die Beiden hinaus in den frisch ergrünenden Bergwald. Drei Winter schwanden ihnen so – und Veverl war acht Jahre alt geworden, als ihres Vaters Schwester, die Mariann’, das „große Glück“ machte. Da drängte nun der Finkenbauer den Schwager, mit seinem Kinde zu ihm ins Dorf zu ziehen; der aber konnte sich ein Leben fern von seinem Waldhaus nicht denken – er blieb, wo er war und was er war.

Acht neue Jahre gingen dahin – aus dem lieblichen Waldkinde war das blühende, träumerische, rehäugige Mädchen geworden – auf das Haupt des Vaters aber war ein Schnee gefallen, den keine Frühlingssonne schwinden machte. Wieder hatte der Winter seinen weißen Teppich über Höhen und Tiefen gedeckt, da war es am Weihnachtsmorgen, Veverl stand unter der Thür und lockte die Vögel, die im Froste pispernd und wispernd ihre Federn sträubten, der Vater aber hatte gemeint, auch das Wild sollte den Tag vermerken, der voreinst den göttlichen Helfer für Noth und Elend geboren hatte – und nun stand er da drüben, unfern vom Hause – klingend hallten die Schläge seiner Axt – er fällte einen Fichtenstamm, damit das Wild die zarten, saftigen Zweigspitzen äsen könnte. Krachend stürzte der Baum, streifte im Stürzen einen andern, wodurch ein schwerer Ast gebrochen und seitwärts geschleudert wurde – und mit einem gellenden Aufschrei flog das Mädchen auf den Vater zu, der, von dem Aste auf die Stirn getroffen, lautlos niedersank auf den Grund, dessen weißer Schnee von dem strömenden Blute sich röthete. Jammernd warf sich das Kind über den Vater, rüttelte mit den kleinen Händen sein blutendes Haupt und rief ihn schluchzend an mit allen Namen, welche Zärtlichkeit und Liebe in qualvollem Schmerze nur ersinnen können. Doch als sein Auge starr blieb und stumm sein Mund, da zeigte sich in Eva die Tochter dieses Vaters – mit Gewalt überwand sie ihre Thränen, der hundertmal gehörten Lehre ihres Vaters denkend, daß der Seele eines Todten die um ihn geweinten Thränen brennendes Weh bereiten. Dennoch brach sie noch einmal in lautes Schluchzen aus, als ihr bei dem Versuche, die Leiche in das Haus zu verbringen, die Kräfte versagten. Da eilte sie in die Stube, nahm das kleine Krucifix aus dem Herrgottswinkel, kehrte zum Vater zurück, faltete ihm die Hände über der Brust und legte das heilige Zeichen zwischen seine erstarrenden Finger. Dann machte sie sich auf den Weg nach Mariaklausen.

Volle sieben Stunden brauchte sie, bis sie das nur eine Wegstunde höher gelegene Kirchlein mit dem Kaplanhause in Sicht bekam; häufig, wenn sie bis über die Brust in den tiefen, eisigen Schnee versunken war, hatte sie die Versuchung angewandelt, die Hände zu falten, die Augen zu schließen und so zu harren, bis der frierende Tod ihre Seele der Seele des Vaters vereinigen würde; aber der Gedanke, daß dann die Leiche des Vaters unbeerdigt liegen müßte, schutzlos den hungernden Füchsen überlassen, spornte immer wieder von neuem ihre schwindenden Kräfte; den letzten steilen Hang vermochte sie nicht mehr zu erklimmen; doch war sie von den Leuten im Kaplanhause schon gewahrt worden, und die beiden Kirchenknechte kamen ihr zu Hilfe. Als sie vor dem alten Kaplane in der mönchisch kahlen Stube stand, versagten ihr fast vor Frost und Entkräftung die Worte. Die bejahrte Wirthschafterin nahm ihr die vom Schnee durchnäßten Kleider ab, wickelte sie in warme Tücher und brachte sie zu Bette; inzwischen stiegen die beiden Kirchenknechte thalwärts nach dem Waldhause; spät in der Nacht erst kehrten sie mit der Leiche zurück – und sie wußten nicht genug zu reden von der wundersamen Gesellschaft, in der sie den Todten gefunden: rings um ihn hätten die Bäume gewimmelt von Vögeln; Hirsche und Rehe hätten ihn im Kreise umstanden; auf seiner linken Schulter aber hätte ein großer, weißer Vogel gesessen, wie sie all ihrer Lebtage noch keinen gesehen, und der hätte mit menschenähnlicher Stimme zu dem Wilde geredet; als sie sich genähert, hätte sich der Vogel pfeilgrad in die Luft erhoben, das Wild aber hätte sich nicht vertreiben lassen – und während sie die Leiche bergwärts trugen durch die Nacht, hätten sie bald hinter sich, bald seitwärts im Walde trippelnde Schritte gehört, so daß es ihnen ganz unheimlich geworden wäre und sie sich ein- um das anderemal bekreuzigt hätten. Veverl konnte den beiden Knechten nicht erklären, daß jener seltsame Vogel ihr liebes „Hansi“ gewesen war, eine weiße Dohle, die ihr Vater gezähmt und abgerichtet hatte, nachdem er sie im vergangenen Frühling unter dem Neste gefunden, aus dem die alten Vögel das in der Farbe mißrathene Junge gestoßen hatten – denn als die beiden Knechte die Leiche in das Kaplanhaus brachten, lag Veverl schon in glühendem Fieber. Der Kaplan und seine Wirthschafterin pflegten sie.

Als die Kranke nach langen Fiebertagen genas, verblieb sie im Kaplanhause; unter ihrem eigenen Dache hätte sie so allein für sich ein trauriges Wohnen gehabt – und der Verkehr mit dem Dorfe war durch den haushoch liegenden Schnee seit Monaten völlig unterbrochen. Zu Anfang des März erst konnte man der Finkenbäuerin die Nachricht von dem Tode ihres Bruders senden; wenige Tage später schon erschien der Bauer in Mariaklausen, um sein Schwagerkind mit sich ins Thal zu führen. Gar wenig war es, was sie aus dem väterlichen Hause, von dem sie unter Thränen schied, mit sich nehmen konnte – und von ihrem „Hansi“, der ihr in Wahrheit eine sprechende Erinnerung an den Vater gewesen wäre, war schon bei ihrem ersten, nach der Genesung vollführten Besuche im Waldhause nichts mehr zu sehen und zu hören gewesen, obwohl sie den Namen des Vogels mit ihrer weichen, innigen Stimme hundertmal hinausgerufen hatte in den widerhallenden Wald. Gegen Abend langten sie im Dorfe an; als Veverl da die „fürchtig vielen“ Häuser sah, wußte sie sich vor Staunen kaum zu fassen; es erging ihr, wie es dem Dörfler ergeht, der zum ersten Male die Großstadt sieht. Auf dem Finkenhofe hatte sie ein leichtes Sicheingewöhnen, denn sie wußte sich alle Leute durch ihr liebes, stilles Wesen rasch zu Freunden zu machen – und überdies waren da noch drei Leutchen, die das Veverl geradezu anbeteten: die beiden Kinder – und der Dori. Freilich – das kleine Waldhaus tief in den Bergen da hinten, mit allem, was drin und drum gewesen, das konnte ihr der prächtige Finkenhof nicht ersetzen – und dann – ihr „Vaterl“ halt – ihr „lieb’s, lieb’s Vaterl!“

Wenn der Finkenbauer nun von diesen Dingen auch nicht mit besonderer Ausführlichkeit erzählte, so bekam Herr Simon Wimmer immerhin noch so viel zu hören, daß er häufige Veranlassung fand, Jörg’s Rede mit den staunenden Worten zu unterbrechen: „Ja was ischt das! Ja was ischt das!“ – und immer wieder wandte er dabei das Gesicht den Fenstern zu, wohl in der Hoffnung, Veverl’s liebliches Antlitz vor einem derselben erscheinen zu sehen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 718. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_718.jpg&oldid=- (Version vom 7.8.2022)