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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)


In die Stube trat eine untersetzte, leicht zur Korpulenz neigende Mannsperson in der dunkelgrünen Uniform der Gendarmen. Der Gutmüthigkeit des Gesichtes konnte der martialische Schnurrbart wenig anhaben, da die verdüsternde Wirkung desselben durch den beruhigenden Purpuranflug der rundlichen Nase so ziemlich ausgeglichen wurde. Nur in den Augen zeigte sich etwas, was nicht „ganz gut“ war – ohne gerade böse zu sein; sie standen so weit offen und hatten einen so merkwürdig gierigen Blick.

Das war Herr Simon Wimmer, der „Kommandant“, der im Range eines Feldwebels stehende Befehlshaber des im Dorfe liegenden, zwei Mann starken Gendarmeriepostens. Vor neununddreißig Jahren war er im Lande der dreispitzigen Hüte und langen Rockschöße geboren worden. In den letzten zwölf Jahren seines Lebens, die er zumeist in oberbayerischen Ortschaften verbracht, hatte er sich wohl den oberbayerischen Dialekt so ziemlich angewöhnt; doch hatte er noch so manche Merkmale seiner schwäbischen Heimathssprache beibehalten, und da war nun seine Art zu reden gar wunderlich anzuhören.

Die Leute im Dorfe, in das er vor drei Jahren versetzt worden war, zeigten sich ihm nicht sonderlich gewogen, obwohl er in Waltung seines Amtes durchaus keinen bösartigen Charakter entfaltete. Aber der Bauer ist dem grünen Tuche mit den blanken Knöpfen im allgemeinen nicht sehr freundlich gesinnt – und im besonderen hatte es Herr Wimmer nie verstanden, sich bei den Leuten in guten Respekt zu setzen.

Eine heilige Scheu aber hatte die holde Weiblichkeit des Dorfes vor dem Herrn Kommandanten – das heißt, weniger vor ihm als vor seinen dicken Fingern, welche eine unverbesserliche Neigung bekundeten, in runde, rothe Wangen zu kneifen, eine Neigung, die sie sogar zu jener Zeit nicht abgelegt hatten, in der ihr Besitzer der „Finkenhofschwester“ auf Freiersfüßen nachgestiegen war, wobei er sein zweckloses Unterfangen durch die Behauptung zu motiviren gesucht hatte: „Büldung und Büldung g’hören älleweil zu einander, und ein Ang’stellter wird ihr wägerle[1] lieber sein als so a unförmiger Bauernknecht.“

Seit jener Zeit war dem Herrn Simon Wimmer der Spitzname „die ang’stellte Büldung“ verblieben, als einer der vielen, die im Dorfe von ihm gebraucht wurden; unter ihnen allen aber waren es besonders drei, die sich eines bevorzugteren Gebrauches erfreuten: da nannte man ihn einmal mit einer doppelt an seine Heimathsprache gemahnenden Diminutivform den „Simmerle Wimmerle“. Diesen Spitznamen hatte ihm ein Bursche aufgebracht, der ihn einst bei einem zärtlichen Stelldichein belauscht und dabei zu der Dirne hatte sagen hören. „Schätzele – geh – sag’ Simmerle zu mir.“ Andere wieder nannten ihn „die verfluchte Geschichte“ – und das leitete sich von einer typischen Redensart her, die der Herr Kommandant in sorgenvollen Momenten oder in Augenblicken der Unentschlossenheit im reinsten Hochdeutsch zwischen den Mischmasch seiner beiden Dialekte einzuwerfen liebte. Die Meisten aber nannten ihn den „Didididi“ – und sie trafen mit diesem Naturlaute ziemlich genau den merkwürdig hölzernen Klang des kurzen Gelächters, welches Herrn Wimmer eigen war; das klang, wie wenn der Rothspecht hämmert an einer hohlen Fichte. Mit diesem Lachen trat nun auch Herr Wimmer in die Stube. Gar freundlich grüßte er die Beiden, die am Tische saßen. Jörg erwiderte den Gruß und erhob sich mit der Frage, was dem Finkenhofe die Ehre dieses „seltsamen Besuches^ verschaffe.

„Didididi!“ lachte Herr Wimmer und blinzelte den Bauer mit einem Blicke an, als ob er ihn für den durchtriebensten Schelm auf Gottes Erde hielte. „Was ischt denn das? Was ischt denn das? A kleins Geheimißle auf ’m Finkenhof? Ich hab’ ja a neus G’sichtle g’sehen, a neus G’sichtle – und was für a saubers G’sichtle! Und natürlich, natürlich, so ’was muß ich gleich beaugenscheinigen, ich in meiner Stellung als oberste Aufsichtsbehörde – ooooh –“ Herr Wimmer hatte sich dem offenen Fenster genähert; legte die Mütze ab und schob den Kopf mit einiger Mühe durch die engstehenden Eisenstäbe. „Aelleweil noch a finsters G’sichtle – älleweil noch?“ lachte er in den Hof hinaus, ohne von Veverl eine Antwort zu erhalten.

„Du – den wirst jetzt wieder an öften zum Anschauen kriegen in Dei’m Hof,“ flüsterte Gidi dem Bauer zu. „Ich mein’, bei dem brennt’s schon wieder.“

„Mein’, im Stroh zündt’s halt leicht.“

Von Gidi’s Lippen schütterte ein lautes Lachen – und als hätte Herr Wimmer dieses Lachen auf sich bezogen, so hastig versuchte er seinen Kopf durch das Fenster zurückzuziehen, ein Versuch, der dem Herrn Kommandanten einen stöhnenden Schmerzensruf entpreßte, gleich zwei Widerhaken hielten ihn seine beiden Ohren vor den Eisenstäben gefangen – und erst, als Herr Wimmer seinen Befreiungsversuch mit überlegungsvoller Ruhe wiederholte, gelang es ihm, sein dem Umfange nach so wohlgerathenes Haupt aus der unangenehmen Zwangslage zu erlösen.

Die Beiden am Tische lachten, daß ihnen die Thränen in die Augen traten, und als Herr Wimmer sich ihnen näherte, mit den Händen die gerötheten Ohren reibend, sagte Gidi:

„Ja – schauen S’ – so a g’sundes Köpfel hat halt net a Jeder. Bei uns, da sind halt d’ Fenstergitter g’rad auf’s Bauernkopfmaß g’rechnet.“

Herr Wimmer spielte den Klugen und lachte mit, obwohl ihm die innerliche Verdrossenheit deutlich aus den Augen sprach. Dann kam er wieder auf das „neue saubere G’sichtle“ zu reden, und er setzte dem Finkenbauer so lange mit Fragen zu, bis er Alles erfahren hatte, was Jörg über Veverl’s Herkunft zu berichten wußte.

Vor wenigen Wochen erst hatte er das Mädchen in sein Haus gebracht. Vevi’s „Vaterl“ war jener Bruder der Finkenbäuerin gewesen, der tief in den Bergen das kleine Häuschen besaß. Die Leute hatten von ihrem Standpunkte aus mancherlei Gründe, wenn sie sagten, er wäre ein „g’spaßiger Kamerad“ gewesen. Er verkehrte nicht gerne mit Menschen. Das war schon als Knabe so seine Art gewesen, mit elf Jahren war er Hüterbub geworden, als er aber sechs Jahre später zum Senn avancirte, taugte ihm das „milchige G’schäft“ nicht lange; da wurde er dann Holzknecht; aber niemals verdingte er sich an einen Rottmeister – er arbeitete nicht gern mit anderen Knechten, denn es kränkte ihn, daß sie darüber spotteten, wenn er vor dem Fällen eines Baumes über denselben den Bannsegen sprach, damit die „Alfin“ durch die Axthiebe nicht verwundet würde, oder wenn er, der vor dem wilden Jäger fliehenden Waldweiblein denkend, in die Rinde des gefällten Stammes die zwei schiefliegenden Kreuze schnitt, damit die armen Verfolgten gefahrlos auf dem Stamme rasten könnten. So nahm er nur Arbeit für sich allein an, mühte sich tagsüber redlich in seinem Schweiße – doch wenn mit Einbruch des Abends seine Axthiebe im stillen Bergwalde verhallt waren, dann freute er sich der Ruhe, dann saß er bis in die sinkende Nacht vor seinem niederen, aus Rinden gesägten Obdache, in stummer Zwiesprach mit der niemals schlummernden Natur. Nie sah man ihn in einem Wirthshause, nie bei einer Lustbarkeit, und auch in der Kirche nur an den höchsten Festtagen. Er wußte mit den Menschen nicht zu reden, dafür um so besser mit seinen Thieren, Pflanzen und Steinen. Alle Thier- und Vogelstimmen wußte er nachzuahmen. In der Nähe seiner Hütte nisteten zahlreiche Vögel, denn er rief sie mit ihren Stimmen und streute ihnen Brotkrumen und getrocknete Beeren. Das Wild scheute nicht vor ihm – und häufig geschah es, daß er ein verirrtes Kitzlein, nachdem er es mit dem Schmählruf der Geiß an sich gelockt, mit den Armen fing und in die Nähe des Dickichts trug, das er als den Standort des Mutterthieres kannte. Die Bäume, Blumen und Pflanzen waren für ihn nicht leblose Produkte der Natur; ihre mannigfache äußere Gestalt erschien ihm gleichsam als die verschiedenartige Gewandung verschiedener Lebewesen, deren Leben in der äußeren Wandelung der Pflanzengestalt, in Wachsthum und Blüthe, sich bekundete, die, der Gottheit untergeordnet und den Menschen übergeordnet, mit der Gottheit in geistigem Verkehre standen und mit den Menschen fühlten in menschlichem Empfinden; selbst das starre Gestein erschien ihm als die Hülle ähnlichen Lebens. Er liebte die Natur, und deßhalb bevölkerte er sie. Lange Jahre zehrte er dabei von dem reichen Sagen- und Fabelschatze, den sein Kindesherz gesammelt, späterhin baute er auf diesem Grunde weiter – – Natur und Natur, das war der Ausgang und das Ziel all seines Fühlens und Denkens und der Verkehr mit der Natur seine einzige Freude. Aber es kam für ihn eine Zeit, in der zu dieser Freude noch eine andere, reichere sich gesellte.

(Fortsetzung folgt.)

  1. wahrhaftig; schwäbischer Dialekt.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 704. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_704.jpg&oldid=- (Version vom 6.2.2023)