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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

vor Jahresfrist kaum Jemand an ihren Abschluß gedacht oder geglaubt hatte!

Am wenigsten aber hatten wohl die daran gedacht und geglaubt, die vor dieser Jahresfrist mit eigenen Augen gesehen hatten, mit welchen unerhörten Mitteln in diesen Wildnissen der Bahnbau gefördert werden mußte, und die nicht von Villard’schen Luxuszügen, sondern vom Sattel des Bergpferdes aus eine eigene Anschauung davon gewonnen hatten, was es mit der damals noch klaffenden Lücke von fast 600 Meilen eigentlich auf sich hatte. Damals, im August 1882, hatte „die Front“ der pacifischen Hälfte des gewaltigen Bahnbaus auf ihrem Inland-Vormarsch eben den See Pend d’Oreille hinter sich gelassen. Nun schob sie sich den Clark’s Fork entlang durch die nördlichen Ausläufer der „Bitter Root Mountains“, das zerklüftete Kabinetgebirge, nach dem Südosten vor. Schon auf den letzten 30 Meilen der dortigen Strecke schien Alles, was man sehen, hören und sonst wahrnehmen konnte, unter dem Bann der eine Art elementarer Kraft ausübenden Devise „An der Front“ zu stehen. Endlich ist diese selbst erreicht, und die ganze jungfräuliche, bisher kaum von Trappern, Indianern, Fallenstellern und verwandten weiß- und rothhäutigen Hinterwaldsexistenzen betretene Wildniß schwärmt plötzlich von ameisenhaft-thätiger Kulturmenschheit kaukasischer und mongolischer Rasse, von Pferden und Fuhrwerken, von Blockhütten und weißschimmernden Zelten – Alles in Allem ein Bild landerobernden Civilisations-Heerbanns, für welches gerade inmitten dieses unentweihten Waldheiligthums keine bessere Bezeichnung zu ersinnen wäre, als jenes kriegerische: „An der Front“.

Verschwiegenheit.
Aus dem Werke „Allegorien und Embleme“.
Verlag von Gerlach und Schenk in Wien.

In etwa zwölf Partieen – Ingenieurs- und Arbeiterabtheilungen – und in einer Gesammtausdehnung von 12 bis 20 Meilen rückt eine derartige amerikanische Eisenbahn-Eroberung voran. Jede dieser Abtheilungen hat ihr eigenes Zelt-Dorf, welches sich längs des eben entstehenden Bahnbaus hinstreckt. Um das weit vorangeschobene Hauptquartier des Chef-Ingenieurs und seines Stabes, mehr noch aber dort, wo für die eigentlichen Damm-, Sprengungs- und Gradirungsarbeiten die bei pacifischen Bahnbauten unerläßlichen Chinesen-Legioner ins Gefecht geführt werden, wachsen diese Zelt-Kolonien zu vollständigen Zelt-Städten an. Ein eigenes Kommissariat, eigener Lazarethdienst und riesiger Pferde- und Wagentrain verleihen diesen Lagerstädten friedlicher Eroberung einen echt kriegerischen Zug. Wie aber im Mittelalter der wirkliche Krieg vom Kriege lebte, so lebt in den vom Dampf ihrem Wildnißzustand zu entreißenden Wildnissen des Großen Westens der Eisenbahnbau von der Eisenbahn. Sie, die eben entstandene und entstehende, bringt Alles, dessen diese Armee von „Eisenbahnern“ bedarf, aus den dahinter liegenden, von ihr bereits eroberten Landstrichen herbei. Und so schiebt sich, längs des beständig entstehenden und vorandringenden Schienenweges dieser ganze ungeheure, Organismus von Tausenden von Menschen und Hunderten von Pferden, Wagen, Zelten und Baracken der vordersten den ersten Fußpfad durch den Wald hauenden Avantgarde von „Eclaireurs“ und „Axmen“ nach, bis weit hinter ihnen, als Schwanz dieser Riesenschlange menschlicher Arbeits- und Bauthätigkeit, die Pionierlokomotive langsam vorwärtsdampft!

Von den Sommer- und Herbsttagen des Jahres 1882, in denen man dieses Schauspiel in den Walddickichten des Pend d’Oreille Sees und des Clark’s Fork in seiner ganzen fiebernden Großartigkeit beobachten konnte, hatte nur ein Handvoll Monate ins Land zu gehen, und im Angesicht der Bergriesen der „Bitter Root“ und der „Rocky Mountains“ konnten die Geleise der östlichen und der westlichen Strecke der Nord-Pacificbahn vereinigt werden.

Das gewaltige 2100 Meilen lange Eisenband von den Kanadischen Seen nach dem Puget Sund, vom oberen Mississippi nach der Columbiamündung, war geschlossen. Die Lokomotive herrscht ununterbrochen über den ganzen Nordwesten der Vereinigten Staaten, und auch das weltverschollene Urwaldsidyll des Pend d’Oreille und des Clark’s Fork ist mit der modernen Eisenbahn-Epopöe längst derartig Eines geworden, daß der auf diesem Wege von Ocean zu Ocean jagende Weltreisende sich kaum noch einen Begriff davon machen kann, wie es daselbst aussah, als der Magier Dampf im Sommer des Heils 1882 sein erstes Panier in diesen erhabenen Waldeinsamkeiten entrollte.


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 620. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_620.jpg&oldid=- (Version vom 4.12.2022)