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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)


„Nu hebben se’n,“ lief ein Gemurmel den Gartenzaun entlang, unklar lassend, ob man Hradscheck oder den Todten meine; die Jungens auf dem Kegelhäuschen aber reckten ihre Hälse noch mehr als vorher, trotzdem sie weder nah noch hoch genug standen, um irgend ’was sehn zu können.

Eine Pause trat ein. Dann nahm der Justizrath des Angeklagten Arm und sagte, während er ihn dicht an die Grube führte. „Nun, Hradscheck, was sagen Sie?“

Dieser verzog keine Miene, faltete die Hände wie zum Gebet und sagte dann fest und feierlich: „Ich sage, daß dieser Todte meine Unschuld bezeugen wird.“

Und während er so sprach, sah er zu dem alten Todtengräber hinüber, der den Blick auch verstand und, ohne weitere Fragen abzuwarten, geschäftsmäßig sagte: „Ja, der hier liegt, liegt hier schon lang. Ich denke 20 Jahre. Und der Pohlsche, der es sein soll, is noch keine zehn Wochen todt.“

Und siehe da, kaum daß diese Worte gesprochen waren, so war ihr Inhalt auch schon bewiesen und jeder schämte sich, so wenig kaltes Blut und so wenig Umsicht und Ueberlegung gehabt zu haben. In einem gewissen Entdeckungseifer waren alle wie blind gewesen und hatten unbeachtet gelassen, daß ein Schädel, um ein richtiger Schädel zu werden, auch sein Stück Zeit verlangt und daß die Todten ihre Verschiedenheiten und ihre Grade haben, gerade so gut wie die Lebendigen.

Am verlegensten war der Justizrath. Aber er sammelte sich rasch und sagte: „Todtengräber Wonnekamp hat Recht. Das ist nicht der Todte, den wir suchen. Und wenn er 20 Jahre in der Erde liegt, was ich keinen Augenblick bezweifle, so kann Hradscheck an diesem Todten keine Schuld haben. Und kann auch von einer früheren Schuld keine Rede sein. Denn Hradscheck ist erst im zehnten Jahr in diesem Dorf. Das alles ist jetzt erwiesen. Trotz alledem bleiben ein paar dunkle Punkte, worüber Aufklärung gegeben werden muß. Ich lebe der Zuversicht, daß es an dieser Aufklärung nicht fehlen wird, aber ehe sie gegeben ist, darf ich Sie, Herr Hradscheck, nicht aus der Untersuchung entlassen. Es wird sich dabei, was ich als eine weitere Hoffnung hier ausspreche, nur noch um Stunden und höchstens um Tage handeln.“

Und damit nahm er Kunicke’s Arm und ging in die Weinstube zurück, woselbst er nunmehr, in Gesellschaft von Woytasch und den Gerichtsmännern, dem für ihn servirten Frühstücke tapfer zusprach. Auch Hradscheck ward aufgefordert, sich zu setzen und einen Imbiß zu nehmen. Er lehnte jedoch ab und sagte, daß er mit seiner Mahlzeit lieber warten wolle, bis er im Küstriner Gefängniß sei.

So waren seine Worte.

Und diese Worte gefielen den Bauern ungemein. „Er will nicht an seinem eignen Tisch zu Gaste sitzen und das Brot, das er gebacken, nicht als Gnadenbrot essen. Da hat er Recht. Das möcht ich auch nicht.“

So hieß es, und so dachten die Meisten.

Aber freilich nicht alle.

Gendarm Geelhaar ging an dem Zaun entlang, über den, sammt andrem Weibervolk, auch Mutter Jeschke weggekuckt hatte. Natürlich auch Line.

Geelhaar tippte dieser mit dem Finger auf den Dutt und sagte: „Nu, Line, was macht der Zopf?“

„Meiner?“ lachte diese. „Hörens, Herr Gendarm, jetzt kommt Ihrer an die Reih’.“

„Wird so schlimm nicht werden, Lineken … Und Mutter Jeschke, was sagt die dazu?“

„Joa, wat sall se seggen? He is nu wedder ’rut. Awers he kümmt ook woll wedder ’rin.“

(Fortsetzung folgt.)

Unsere nächste Nachbarwelt.

Wer nach des Tages Lasten und Mühen seine Erholung in der freien Natur zu suchen pflegt, der wendet, wenn das Dunkel der Nacht sich über die Fluren herabsenkt, gern den Blick empor zum sternenbesäeten Himmelsgewölbe. Denn aus diesen Regionen strömt es wie ein hehrer Gottesfriede herab in das empfängliche Gemüth, und Raum und Zeit sammt dem vielgestaltigen Jammer, der nun einmal der Menschheit Erbtheil ist, scheinen dann weniger die Seele zu bedrücken. Steigt endlich die Scheibe des Mondes über den Horizont empor, so fühlt sich der Mensch leicht wie im Banne einer friedlichen Macht, und deßhalb haben zahllose Dichter den Mond verherrlicht, ja seinem milden Lichte einen besonderen Einfluß auf das Gemüth zugeschrieben. Auch die Volksanschauung behauptet die verschiedenartigsten Wirkungen des Mondes auf den Menschen wie auf die organischen Wesen überhaupt. Man kann wenigstens die Möglichkeit solcher Einflüsse nicht bestreiten, wenn man sich erinnert, daß das Nervensystem an Feinheit in vielen Beziehungen selbst die empfindlichsten Apparate, welche die Wissenschaft zur Beobachtung besitzt, weit übertrifft. Unter den „Lichtern zu erhellen die Nacht“ ist der Mond jedenfalls das augenfälligste und seine wechselnden Gestalten haben sicherlich schon in den frühesten Zeiten der Menschheit die allgemeine Aufmerksamkeit erregt. Die Wissenschaft hat später nachgewiesen, daß dieser merkwürdige Begleiter der Erde auch der uns bei Weitem am nächsten befindliche Himmelskörper ist, indem er nur 30 Erddurchmesser von uns entfernt seine Bahn beschreibt.

So erscheint der Mond recht eigentlich als unsere Nachbarwelt. Von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet kann man auch erwarten, daß diese Nachbarerde unseren eigenen Planeten mehr oder weniger beeinflußt, ja man wird geneigt, dabei an recht bedeutende Einwirkungen zu denken. Die Volksmeinung spricht sich bekanntlich mit seltener Uebereinstimmung dahin aus, daß der Mond vor Allem das Wetter auf unserer Erde beherrsche, besonders soll die feine, nach dem Neumonde erscheinende Sichel fast immer eine Witterungsänderung bedingen. Weßhalb dies der Fall ist, weiß freilich Niemand von Denen, die daran glauben, und wenn dem Astronomen oder Meteorologen diese Frage gestellt würde, so könnte er nur wie Plutarch bei einer gewissen Gelegenheit antworten: „Ganz einfach deßhalb, weil die Sache vielleicht gar nicht wahr ist.“ Sie ist in der That nicht wahr; denn die neuesten Untersuchungen haben mit einer Gewißheit, die gar keinem Zweifel Raum läßt, gezeigt, daß ein Einfluß des Mondes auf das Wetter, wie es der populären Meinung nach bestehen soll, durchaus nicht existirt.

Hat aber der Mond auch keine wahrnehmbare Einwirkung auf das Wetter, so übt er doch einen gewaltigen und regelmäßig wiederkehrenden Einfluß auf das Wasser unserer Weltmeere aus. Ebbe und Fluth sind hauptsächliche Wirkungen des Mondes und von so ungeheurer mechanischer Kraft, daß ein verschwindend geringer Theil derselben ausreichen wird, um dereinst, wenn unsere Kohlenvorräthe erschöpft sein werden, die ganze Menschheit mit Wärme zu versorgen. Heute ist es Arbeit der Sonne, alte, in den Pflanzen niedergelegte Sonnenwärme, die unsere Oefen heizt, die unsere Maschinen treibt und unsere Wohnungen bei Nacht erleuchtet; in einer Zeit, die früher oder später ebenso gewiß kommen muß, wie die Sonne morgen im Osten aufgeht, wird es die Anziehungskraft des Mondes sein, welche den Tausendcentner-Hammer hebt oder den eisengepanzerten Riesendampfer durch Sturm und Wogen zwingt. Schon heute ist diese flutherzeugende Kraft des Mondes gelegentlich als billiger und ausreichend starker Lastträger benutzt worden, wo es galt, Gewichtsmassen zu bewegen, denen keine andere Kraft gewachsen war. Ein 460 Meter breiter Meeresarm trennt die Insel Anglesea von der Küste von Wales. Diesen Meeresarm überbrückt seit einem drittel Jahrhundert ein ungeheures eisernes Rohr und bietet in seinem Inneren den schwersten Eisenbahnzügen eine sichere Fahrbahn über die grausenvolle Tiefe der See. Keine andere Kraft hat die ungeheuren Rohre dieser Riesenbrücke zwischen die Pfeiler getragen, als die flutherzeugende Kraft des Mondes! Daran wurde der geniale Erbauer der Brücke, Robert Stephenson, einst selbst erinnert, als er im Kreise von Angehörigen und Gästen den Vorgang bei Aufrichtung der Brücke schilderte. Max Maria von Weber war Ohrenzeuge der Erzählung, und es ist von eigenthümlichem Interesse, seinen Bericht zu vernehmen.[1]

  1. Eine ausführliche Wiedergabe dieses Gespräches findet der Leser in den höchst interessanten Artikeln, die M. M. v. Weber unter dem Gesammttitel „Im Hause Robert Stephenson’s“ im Jahrg. 1868 der „Gartenlaube“ veröffentlicht hat.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 602. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_602.jpg&oldid=- (Version vom 28.3.2024)