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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Fritz, der ihm auch mit seinem Korbe begegnete, hielt er an, faßte ihn sogar fest am Kragen, schüttelte den Erstaunten hart und rief:

„Mensch, wo treibst Du Dich so lange herum? Auf der Stelle machst Du, daß Du nach Hause kommst, und daß Du mir da alle Deine fünf Sinne zusammennimmst, das rathe ich Dir. Ihr habt Gastbesuch aus dem blauen Himmel dort zu Hause. Ja, geh nur und sieh Dir Dein blaues Wunder daran.“

„Hat er einen zu viel oder zu wenig?“ brummte der graue getreue Knecht. „Gastbesuch? Na nur nicht zu zärtlich, das ist Alles was Unsereinem von dergleichen zu wünschen übrig gelassen ist.“

Kopfschüttelnd, allerlei Unverständliches in sich hineinmurmelnd, nahm er seinen Korb, den er abgesetzt hatte, wieder auf und trabte seinerseits weiter, nicht wenig gespannt auf das blaue Wunder, das ihn daheim erwartete:

Im holden Abendglanz, in tiefer Ruhe lag sie, die „Kabache dort“, die „auf den Abbruch gestellte“ Siechenhütte. Der Gast, der an diesem Abend gekommen war, hatte keine Unruhe, keine Angst, keinen Zank und Lärm der Welt in sie hineingetragen. Er hatte sich nur selber gebracht, und holen wollte er auch nichts für sich, und der schönen Valerie wollte er auch all das Ihrige lassen.

Schon saßen das alte und das junge Fräulein, die Eine mit ihrem Strickzeug, die Andere mit einer Häkelarbeit, wieder auf der Bank unter dem offenen Fenster der Krankenstube. Kisten und Kasten waren nicht abzuladen gewesen; sie hatten Beide wenig Eigenthum auf der Erde, die Pflegerinnen Veit von Bielow’s. Auch Fräulein Dorette Kristeller konnte wohl zu jeder Reise um die Welt, zu jedem Ein- und Auszuge binnen fünf Minuten Alles in ein Bündel zusammenpacken, wie Phöbe Hahnemeyer.

So hatten sie sich leicht in den engen Raum der Giebelkammer und verständig und gut, ohne viel unnöthig Reden in ihre Aufgaben und Arbeiten im Erdgeschoß des Hauses getheilt. So saßen sie schon eine Viertelstunde nach dem Abmarsch des Doktors Hanff, als ob sie seit Jahren so gesessen hätten; und sie unterhielten sich ruhig miteinander.

„Ich habe wohl Mehrere von der Sorte gehabt,“ sagte eben Fräulein Kristeller. „Ich meine nicht berüchtigte Professoren, Barone oder dergleichen, sondern in meiner Praxis Solche, die nicht wild wurden durch das Fieber, sondern anständig, freundlich und zufrieden blieben und sich durch Wochen durchschliefen, die Einen in das Leben, die Andern in den Tod. Das müssen wir nun abwarten und können wenig dazu und davon abthun. Guck, da kommt, bis sie uns das, was sie reguläre Hilfe nennen, geschickt haben, meines Bruders alter Friedrich aus unserer Apotheke ‚Zum wilden Mann‘. Wird der Augen machen über seinen neuen Hausgenossen! Da macht er sie schon!

„Herrgott, des Räkels und Spörenwagens Fräulein?“ stammelte das Faktotum des seligen Philipp Kristeller, seinen Korb vor der Bank niedersetzend. „Das Fräulein von der Vierlingswiese? da soll es freilich blau über Einem werden, Fräulein Dorette!“

„Unter unsern Umständen, Eins ins Andere gerechnet, lieber Alter, ist dieses freilich der merkwürdigste Besuch, der uns noch zu Theil werden konnte, seit Oberst Agonista zu Gast bei uns war,“ sagte Fräulein Dorette Kristeller.


20.

Der Sommer ist dahingegangen, der Herbst auch. Längst haben sich die eingebornen Buttervögel und die fremden Gäste aus dem Thal verloren. Die Musikanten haben ihre Instrumente zusammengepackt, die Springbrunnen haben ihr lustig Rauschen und Hüpfen für diesmal eingestellt, die überflüssigen Kellner, Köche und Stubenmädchen sind entlassen, und die ortsangesessenen Leute sind wieder in die Räume eingezogen, die sie während der „Saison“ an die Fremden vermiethet hatten. In den vornehmen Privatvillen sind die Läden geschlossen, die Vorhänge herabgelassen, die Möbel mit Ueberzügen versehen und die Spiegel und Bilder verhängt. In den Spekulationsvillen ist in den Miethgemächern dasselbe geschehen, nur haben sich die am Orte verbliebenen Spekulanten und Eigenthümer auch hier, zu eigener Behaglichkeit mit ihrem eigenen Haushalt ausgebreitet, und es gehen in manchem Salon Dinge vor, die während der fashionablen Erntezeit rein unmöglich darin waren. Die großen Hôtels stehen stumm und langweilig und beinahe etwas unheimlich unter dem gewöhnlich recht grauen Himmel. Jedermann im Bad hat längst seinen Gewinn aus dem Jahrgang zusammengezählt und ist mehr oder weniger zufrieden damit.

„Man hat sich selbst endlich wieder!“ sagen die Leute, welche aus irgend einem Grunde nicht mit zu spekuliren brauchten oder konnten. Was Jedem zu diesem seinem Selbst im Guten oder Bösen aus dem mehr oder weniger unmittelbaren Verkehre mit den fremdländischen flüchtigen Nachbarn im Sommerleben zugewachsen war, das mochte er im Stillen ebenfalls zusammenrechnen; – wir werden ihn gewiß nicht daran hindern. Jedenfalls sieht der Pfarrer im Bade nicht mehr so viele fremde Gesichter und wundervolle abenteuerliche moderne Damenhüte unter seiner Kanzel, wie im Sommer. Er redet als guter Hirt nur noch seinen eigenen Lämmern ins Gewissen. Wenn er dieselben vermahnen würde, das nächste Jahr die Schere nicht so hart anzulegen, sondern an das alte Sprichwort: Was Du nicht willst, daß man Dir thu’ und so weiter zu gedenken, so erwürbe er sich unbedingt ein Verdienst dadurch. Und wenn er noch so zart durch die Blume redete, könnte man ihn doch nur für seine Bemühungen loben.

Auch Landphysikus Doktor Hanff ist in seinen alten gewohnten Praxiskreis zurückgesunken. Seinen Gewinn aus der „Narrethei“ hat er zwar auch genau überzählt und ist recht zufrieden; aber behaglicher ist’s ihm doch unter den ihm „von Haus aus“ bekannten Klienten und Patienten, und vor allem in der regulären gewohnten Winterstammkneipe, wo Wirth und Wirthin, Tochter vom Hause und Dina die Kellnerin endlich auch einmal wieder einen Augenblick Zeit für ’nen wirklichen Menschen und ein ruhiges Wort haben. Solider Frühschoppen und gemüthliches Anwurzeln Abends hinter geschlossenen Fensterläden in warmbehaglicher Sofa-Ecke, nicht zu nah und nicht zu fern dem Ofen, sind endlich wieder zu ihrem Rechte gekommen. Item die lange Kneip-Winterpfeife, von der im „vermaledeiten Sommergelärm“ auch nicht die Rede sein konnte. Item eine erkleckliche Reihe ortsangeborener Anekdoten, die in dem „nichtsnutzigen Getöse“ dem Versinken ins „Nimmerwieder-Gewürdigtwerden“ nur zu nahe waren.

Das auch in diesem letzteren Fache im Guten wie im Bösen neu Zugewachsene ist darum ja nicht minder begehrt. Jeder hat den Sommer über Ohren und Augen offen gehalten. Jeder hat was zugelernt, und Doktor Hanff nicht das Wenigste. Die Abende sind lang, und recht schade ist’s, daß der verflossene bunte Schwarm der Fremden nicht mit zu hören bekommt, was an diesen langen Herbst- und Winterabenden die biedern Eingeborenen nachträglich über ihn im Einzelnen wie im Allgemeinen zu sagen haben. Manche, vielleicht sogar viele von den lieben Gästen würden wahrscheinlich in der nächsten Saison nicht wiederkehren, wenn sie ihr Lob vernehmen könnten. So viel hiervon.

In den Bergen oben ist um diese Jahreszeit die Witterung natürlich noch um einige Grade rauher, als drunten im mehr vor dem Winde geschützten Thale. Das Dorf des Pfarrers Prudens Hahnemeyer ist seiner jedem Wehen preisgegebenen Lage wegen sogar arg verrufen. Die Stürme treiben dort schon im Sommer manchmal schlimm genug ihr Spiel; aber um die Tag- und Nachtgleiche wird’s dann und wann fast zu schlimm.

Nur die Tannen halten nach ihrer Art ihr grünes Kleid dort oben noch fest. Den Laubbäumen ist es längst entrissen und wirbelt in Fetzen auf allen Wegen, oder hat sich in den Wäldern zu Boden gelagert, und der Fuß versinkt beim Durchschreiten tief in die weiche, raschelnde Decke; wenn er nicht gar schon im Schnee versinkt.

Das Pfarrhaus theilt nicht bloß die klimatischen, meteorologischen, atmosphärischen Verhältnisse der Planetenstelle mit den Hütten und Häusern der Gemeinde, der Berg- und Ackersleute, sondern es nimmt sogar sein gut Theil voraus; denn vor Allem liegt es „auf dem Winde“. Der Pastor hat wohl mehr denn je Grund, auf die Aussicht aus seinen Fenstern zu verzichten. Die schlechtgefaßten Scheiben klirren selbst hinter den geschlossenen Läden, und das Klappern der Ziegel auf dem Dache ist, vorzüglich bei Nacht, eine Musik für sich selber, nur nicht für einen nervösen, fröstelnden Menschen wie den jungen Pastor Prudens Hahnemeyer.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 594. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_594.jpg&oldid=- (Version vom 29.3.2024)