Seite:Die Gartenlaube (1885) 579.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)


„Paßt op! een, twee, dree!" rief der Alte, spreizte die kurzen Beine, bog den Oberkörper nach hinten und warf das Geldstück weit ausholend über aller Köpfe weg die Straße aufwärts. Mit ausbündigem Jauchzen stürmten die Kinder darauf zu, sie stießen und drängten sich purzelnd über einander, alle Köpfe lagen am Boden, von den kleineren auch die Leiber, ein dicker Knäuel; die kleine Münze mußte in eine Ritze zwischen den Pflastersteinen gerollt sein, wo? wo? Das Lärmen und Lachen verstummte, es ward eine athemlose Suchstille; der Droschkenkutscher war fast so gespannt wie die Kinder; in seiner dumpfen Lustigkeit stand er noch immer lachend, barhaupt auf der stillen sonnigen Straße.

Da plötzlich in die lautlose Spannung hinein dröhnte ein eigenthümliches Kettengerassel vom oberen Straßenrande. Was ist das? Die Kinder rühren sich nicht, aber der alte Kutscher hat den schweren Kopf umgedreht und zwinkert unter der vorgehaltenen Hand in die volle Sonne hinein. Das Rasseln kommt näher, immer näher.

„Donnerwetter!“ schreit er auf. „Jungens! Gören! ut den Weg! De Sadel is leddig un de Peerd’ sünd dörchgahn! Jungens! Gören!"

Das war es! Ein langer schwerer Bierwagen mit vollen Fässern, an rasselnden Ketten behangen, kam in rasendem Rollen die steil abfallende Straße herunter, gerade auf den Kinderknäuel am Boden. Die hoben kaum den Kopf, die merkten nichts, die hatten ihr Zehnpfennigstück noch immer nicht gefunden. Mit einem plötzlichen Satze war der Alte vom Trottoir herunter, die wackligen Beine gewannen Riesenkräfte, noch einmal rief er hinter sich: „Ut ’n Weg!“ Dann stürzte er mit dem Rufe: „Wullt Du stahn, Du ...?“ dem schäumenden Handpferd in die Zügel, zehn Schritte vor dem jetzt schreiend zerstiebenden Kinderhaufen. Thüren wurden aufgerissen, aus den Kellern eilten die Frauen herauf, um ihre Kleinen angstvoll an Kleidern und Armen fortzureißen, ein furchtbarer Tumult entstand, aber nur auf den Trottoirs, der Fahrweg war schon wieder frei. Nur einen kurzen Augenblick hatten die Pferde gestanden, dann rasten sie die Straße vollends hinunter, um auf dem Markte zitternd und schnaufend still zu halten; das schwere Gewicht des Wagens hatte sie vorwärts gedrängt, das schwere Gewicht des Wagens war über die alte lustige Gestalt des Mannes hinweg gegangen, die da rücklings mit ausgestreckten Armen mitten auf der schrägen Straße lag, ganz still lag. Eine große Menschengruppe umstand ihn; auch die war still. Bis der Arzt kam, zu dem mehrere Personen schon geeilt waren, wollte man ihn nicht anrühren. Eine Frau weinte hörbar; ihr kleines Mädchen war mit unter den suchenden Kindern gewesen. Jetzt schlug er die Augen auf und sah die vielen Leute. „Dat ward all wedder beter,“ sagte er leise. „De Sak, de is man unbedüdend. Sünd de Gören alle heil?“

„Ja, ja!" erwiderten mehrere Stimmen.

„Dat hew ick mi ook nich dacht,“ fuhr er immer schwächer fort, „erst de bannige Witz un nu dät noch! Aber slimm is dat nich.“

Ein rothbäckiger helläugiger junger Mann von energischen Manieren trat zwischen die aus einander weichende Menge; es war der Polizei-Arzt. Er knieete neben dem Verletzten nieder und öffnete das blutige Hemd, auf dem die zerrissene Uhrkette baumelte. Er hatte schon gehört, wie es hier stand; die weinende Frau hielt mit dem Schluchzen inne, und auch die Anderen athmeten ängstlich und gepreßt. Nun erhob sich der Arzt wieder und trat schnell auf ein paar Leute zu, die auf dem Trottoir mit einem Tragkorbe zwischen zwei langen Stangen warteten.

„Lassen Sie ihn liegen bis nachher,“ sagte er flüsternd, „wir wollen ihm nicht nutzlos Schmerzen bereiten; er scheint keine zu haben; es ist gleich vorbei. Und dann nach dem Krankenhause natürlich, ich komme gegen Abend wegen des Todtenscheins vor.“

Er ging eilig. Der Schatten seiner langen Figur flog über die festtäglich saubere Straße. Festtäglich sauber auch noch, als man die schwere Leiche fortgetragen hatte und ein geringer Blutflecken zurückblieb. Er beschmutzte sie nicht.


Die Argischkirche und ihr Baumeister Manoli.

(Mit Illustration S. 565.)

Sie ist eines der schönsten und erinnerungsreichsten Baudenkmale des Landes, diese Klosterkirche von Curtea de Argisch, eines der vollendetsten Meisterwerke der byzantinischen Renaissance und der Stolz eines jeden Rumänen. Fast verschwenderisch ist sie mit Ornamenten geschmückt, und jedes Stück der aus freier Hand in Stein gehauenen Verzierungen ist kunstvoll bis in das kleinste Detail. Die Thürme, Kuppeln und Fenstergewandungen, das prächtige Portalgesimse und die zahlreichen Ecken, Kanten und Winkel des Gebäudes ziehen die Blicke des Kunstverständigen in gleichem Maße auf sich. Trotzdem war das merkwürdige Bauwerk bis zur Zeit der österreichischen Okkupation der Donaufürstenthümer im Jahre 1856 so gut wie unbekannt. Erst Graf Coronini, der Kommandant der Okkupationsarmee, lenkte die öffentliche Aufmerksamkeit auf dasselbe hin; seitdemt aber bildete auch das im malerischen Nordwesten Rumäniens gelegene Curtea de Argisch mit seiner Klosterkirche das Reiseziel zahlreicher Kunstjünger und Kunstfreunde.

An solche Schöpfungen der Kunst, die ungewöhnliche Menschen voraussetzen, pflegt die Nachwelt Legenden und Sagen zu knüpfen, und so webt auch um die Erker und Giebel der Kirche von Argisch seit Jahrhunderten die Volkspoesie ihre schimmernden Fäden, und der Volksmund erzählt uns eine wunderbare Geschichte von der Entstehung der berühmten Klosterkirche und ihrem Baumeister Manoli.

Fürst Neagri Bessarab war der Stifter der Kirche, die im Jahre 1518 nach mannigfachen Schwierigkeiten vollendet wurde. Mit dem Aufwande seines ganzen Vermögens soll er sie erbaut, ja seine fromme Gemahlin sogar ihre Werthsachen verkauft haben, damit das Werk zu Ende geführt werden konnte.

Einst, so erzählt die Sage, erging sich Fürst Neagri Bessarab mit dem berühmten Baumeister Manoli an dem herrlichen Ufer des Argisch, als sie einem Hirten begegneten, bei welchem sie sich nach dem wildesten Ort des Flußufers erkundigten, nach einem Orte, „wo sich das Schlimme zum Bösen gesellt". Der Hirt zeigte ihnen die Stelle, an welcher Schlangen unter Dornen lagen und Hunde und Wölfe mit einander um die Wette heulten. Hier beschloß der Fürst ein Kloster zu bauen, und Manoli begann das Werk. Aber was des Tags über gebaut wurde, fiel in der Nacht wieder zusammen. Bis zum ersten Hahnenruf stand Alles, wie die Arbeiter es hergerichtet hatten; beim zweiten Hahnenschrei aber überfiel ein Zauberschlaf alle Arbeiter und Wachen und die angefangenen Mauern stürzten in Trümmer.

Hier waltete der Böse, der Geist aus der Hölle.

Manoli wollte sein Werk nicht aufgeben, das nach seiner und des Fürsten Absicht die Krone seiner Schöpfungen werden sollte. Der Ehrgeiz verleitete den Baumeister zu einem Pakt mit dem Bösen, wobei Manoli den Preis, noch ehe er ihn kannte, für das Gelingen des Baues und den Lorbeer des Ruhmes dem Teufel zuschwor. Dieser Preis bestand darin, daß das erste Weib, welches zum Bau kommen würde, lebendig eingemauert werde. Manoli’s eigenes Weib kam zuerst. Nun wollte der Meister den Pakt rückgängig machen, aber vergeblich, der Teufel zwang ihn, sein Lebensglück zu vermauern.

Dafür hielt der Böse sein Versprechen. Die Kirche wuchs in verhältnißmäßig kurzer Zeit und zu unvergleichlicher Schönheit empor; sie wurde in der That das Meisterwerk Manoli’s, der Gegenstand staunender Bewunderung für Alle, die sie sahen. Dem Künstler wurde der Lorbeer des Ruhmes zu Theil.

Als dann die Kirche vollendet war, frug Fürst Neagri den Baumeister, ob er sich wohl die Fähigkeit zutraue, eine noch schönere Kirche zu bauen. „Herr!“ rief Manoli, der mit einigen Gesellen hoch oben auf dem Sims stand, „diese Kirche war nur ein Versuch; erst jezt bin ich Meister und kann wohl noch weit Größeres schaffen!“

Auf diese Antwort hin befahl Neagri Bessarab rasch die Leiter zu entfernen und das Gerüst abzubrechen, so daß Manoli und seine Gesellen, damit sie den Ruhm dieser Kirche nicht durch Neuschöpfungen in anderen Ländern verdunkeln könnten, hilflos in schwindelnder Höhe blieben. Es schien ihnen nur die Wahl zu bleiben zwischen dem Hungertod und dem Selbstmord durch einen Sprung in die Tiefe. Aber Manoli wußte Rath. Nach drei Tagen hatten er und seine Gesellen sich Flügel aus Dachschindeln verfertigt und versuchten sich auf die Erde herab zu lassen.

Die Gesellen fielen sofort zur Erde und wurden durch den jähen Sturz zerschmettert. Der Meister hatte seine Flügel geschickter gebaut, und er würde wohl glücklich zur Erde gelangt sein, wenn ihn nicht gerade an derjenigen Stelle, wo er sein Weib eingemauert hatte, die Stimme der Unglücklichen erschreckt hätte. Er hörte sich beim Namen rufen. Da verließ ihn die Besinnung und er stürzte gleichfalls zu Boden. Sein Körper verwandelte sich aber sogleich in Stein, aus welchem das beste Wasser der Umgegend floß. Der daselbst später errichtete Brunnen ist noch heute unter dem Namen Manoli-Brunnen bekannt.

Die Sage von Manoli ist ein prächtiges Erzeugniß des dichtenden Volksgeistes. Dadurch, daß der Baumeister sich dem Bösen verschreibt, verfällt er in Schuld und dieser Schuld folgt die Sühne; beide sind in einer wir müssen sagen dramatisch korrekten Art verknüpft, indem der Ruf des Weibes, dem Manoli Verderben gebracht, diesem selbst den Tod bringt. Die rächende und strafende Gerechtigkeit des Himmels hat aber Manoli zugleich aus der Gewalt des Bösen befreit: das deutet die Sage symbolisch an, indem sie reines, erquickendes Wasser aus dem versteinerten Leibe ihres Helden quellen läßt.

Bei dem hohen poetischen Inhalt dieser Sage hat es nicht fehlen können, daß dieselbe auch die Dichter beschäftigt hat, und zunächst ist als ihr Bearbeiter der moldauische Poet Alexander zu nennen; es dürfte unsere Leser aber besonders interessiren, daß auch ein Deutscher, R. Neumeister, die Sage in einem Drama zum Gegenstand dichterischer Behandlung gemacht hat. W. H. 


Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 579. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_579.jpg&oldid=- (Version vom 20.3.2024)