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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Bei einigen Negerstämmcn wird am Familientische für die Seele eines Verstorbenen Platz gelassen, weil sie unsichtbar unter den Ihren weilt und mit in die Schüssel greift. Nach dem Glauben der Karaiben kümmern sich die abgeschiedenen Seelen mehr um sich selbst, als um ihre irdische Sippschaft, heirathen im Jenseits unter einander und erzeugen Nachkommen. Bei den Peruanern und anderen Stämmen Amerikas bleiben die Seelen in den gestorbenen Leibern, so lange diese nicht verwesen. Man sorgte daher dort, so wie im alten Aegypten, für die Unverwesbarkeit der Leichen. Die Nadowessier pflegen ihre Kinderleichen an besuchten Landstraßen zu begraben, um den Seelen die Einkehr in neugeborene Kinder zu erleichtern. Die Tahitier setzen an die Gräber ihrer Todten hölzerne Bilder, in welchen die Seelen bescheiden Platz nehmen und warten, bis es Zeit ist, sich mit den Körpern wieder zu vereinigen. Bei einzelnen Negerstämmen müssen heirathslustige Wittwen die Seelen ihrer verstorbenen Gatten erst durch ein Bad von ihren Gliedern spülen.

Das ist freilich gemüthlicher als bei den Inkas, wo dem Gatten oft an tausend Gattinnen und Sonnenjungfrauen lebendig auf den Scheiterhaufen folgen mußten, was sie auch willig thaten, weil die Verweigerung dieses Liebesdienstes einem Ehebruch gleichgehalten wurde. Bei den Indianern Nordamerikas lassen die Männer im Angesichte des nahenden Todes ihre Lieblingsfrauen erwürgen, damit sie bei dem Eintritt ins Jenseits allsogleich von ihnen empfangen werden. Bei dem Tode eines Kindes tödtet man auch dessen Wärterin, damit es im Jenseits nicht allein stehe. Bei den Negerstämmen werden von Zeit zu Zeit Menschen getödtet, damit sie den Fürsten im Jenseits Nachrichten von wichtigen irdischen Begebenheiten bringen können. – Ein grauenhaftes Kapitel aus der Geschichte der Wahnideale! –

Ciociara. Nach dem Oelgemälde von L. Bonnat.
Photographie im Verlag von E. Lecadre u. Comp. in Paris.

Manche Völker nehmen an, daß jeder Mensch tief beleidigt aus dem Leben scheide, darum ist bei Negerstämmen der Brauch, an die Todten feierliche Ansprachen zu halten, sie zu bitten, daß sie ja nicht mehr kommen mögen, um etwa Jemand ein Leid anzuthun. In dieser Meinung geben afrikanische Urstämme den Seelen ihrer Todten Menschenblut zu trinken. Man gießt dort durch trichterförmige Oeffnungen Getränke und Blut in das Grab, um die Seelen zu erfrischen und sie menschlichen Wünschen geneigt zu machen. – Dr. Svoboda erzählt auch von Naturvölkern, welche davon überzeugt sind, daß ein Knabe Seele und Blut nicht vom Vater, sondern vom Oheim, ein Mädchen hingegen Seele und Blut von der Mutter empfange. „Ausnahmsweise,“ setzt der Verfasser hinzu, „hat diese Lehre von der Seelenfortpflanzung keine Frevel im Gefolge, sondern eine positive Anerkennung der Mutter- und Frauenwürde.“ – Bei sehr vielen Völkern werden die Seelen der Verwandten oder sonst nahe- oder hochstehender Personen nach dem Tode als Schutzheilige verehrt. Unter den Wilden Afrikas wird mancher Vater von seinem Sohne nur darum erschlagen, damit er diesem ein mächtiger Schutzgeist werden kann. Wenn aber solche Seelen beleidigt oder bei Gebeten und Opfern übersehen werden, so rächen sie sich, sie machen Gewitter, bringen Feuer, Pest und andere Uebel. Daher müssen derlei Schutzgeister durch Gebete und Opfer in guter Laune erhalten werden, auf daß sie ihre Schützlinge vor Unheil bewahren und mit Segen überschütten. Wir sind jedoch damit den Seelenidealen der Kulturvölker so nahe gerückt, daß wir mit Dr. Svoboda’s Bemerkung, der Egoismus sei der Vater, die Phantasie die Mutter solcher Schutzgeister, abbrechen müssen.

Das überaus gehaltvolle Werk Dr. Adalbert Svoboda’s, welches die positiven und die Wahnideale der Menschheit bis in unsere Zeit herein einerseits mit der scharfen Kritik des Forschers, andrerseits mit der Objektivität und Toleranz eines liebreichen Menschen behandelt, eröffnet uns Tiefblicke in die Herzen der Völker, in die Abgründe der Unkultur, vor denen wir nicht selten zurückschaudern. Andrerseits ist es wieder so reich an freundlichen Oasen, an versöhnenden Bildern, an zuversichtlichen Aufblicken. „Es bewegt sich zwar,“ sagt Svoboda, „der Mensch auf dem Boden selbstgeschaffenen Irrwahns in engen Kreisen herum – sich selbst zum Unheil. Das Gesetz der Entwickelung will es aber so. Auch aus den Irrthümern der Menschen spricht sich das Ringen nach Erkenntniß der Wahrheit, also nach einem idealen Ziele aus. – Pessimisten spotten, daß Mensch sein und ewig irren dasselbe sei. Aber Idealmenschen – die oft verhöhnten, isolirten – glauben an die Möglichkeit, daß die menschliche Gesellschaft ihre Selbstrettung doch einmal vollziehen werde.“


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