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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

des Eselstoffel hieher gekommen und habe mich in der Wildniß umgetrieben, um frische Luft zu schöpfen. Sehr hungrig bin ich auch; denn nur mit einem Zwieback und einer Düte voll Zuckerwerk bin ich ausgeritten, und was aus mir geworden wäre, wenn mich nicht ein wilder Waldmensch ganz civilisirt zu seiner Suppe eingeladen hätte, das weiß ich nicht. Ja, Glück habe ich immer; auch dieser wilde Mann war mir schon ein Bekannter; und seine Axt, sein zottiger Bart, seine Reden und seine beiden Kinder durften mir weiter keinen Schrecken einjagen. Herr von Bielow hat uns da unten fast eben so viel von dem Räkel wie von Ihnen, mein liebes Fräulein Hahnemeyer, erzählt; und da saß ich nun im Herzen der Romantik und tauchte des Räkels schwarzes Brot in seinen Topf grade so, wie der Herr Pastor hier in jener schlimmen Nacht aus seiner Flasche getrunken hat. Die Leute zutraulich zu machen, ist ein Talent, zu welchem man geboren werden muß, Herr Pfarrer. Ich gehöre von heute an vollkommen zu der Familie Fuchs. Sie hat mir stundenlang das Geleit gegeben, und nun läßt sie herzlich grüßen; und herzlich bitte ich, mir meine Andränglichkeit zu verzeihen. Papa, der leider Gottes stets wenig an seiner Tochter zu loben hat, nennt dies Valeriens grenzenlose, widerstandslose, rücksichtslose Zuversicht im Menschenverkehr, und nun, bitte, fürchten Sie sich nicht zu arg davor! Lassen Sie auch mich wie Herrn Veit Bielow ein Stündchen in Ihrer Stille sitzen und ausruhen!“ …

Nun hatte sich freilich Fräulein Phöbe als rechtes Weib im Geheimen gefragt: „Sollte jener Mann wirklich dort unten im Thal unter den Seinigen und den Freunden über mich – über uns so laut gewesen sein?“ aber viele Waffen hatte sie gegen die wunderschöne, lachende, rauschende und doch auch wieder so ernsthaft theilnahmvoll blickende und redende Fremde, die so plötzlich auch zu einer Gastfreundin oder gar einer Freundin werden wollte, nicht gehabt. So hatte Valerie nicht nur ebenfalls in der Laube am alten Kirchhof gesessen und die Unruhe im Thurm gehört, sondern sie hatte auch das Haus gesehen, von der Küche im Erdgeschoß bis zu den Fenstern im obern Stock, denn „von dort aus sollte ja die Aussicht so wunderbar schön sein.“ Auch in Phöbe’s Stübchen und Kämmerchen war sie gewesen und hatte in letzterm die kleine Bleistiftzeichnung der Idiotenanstalt Halah vom Nagel über dem Bett abgehoben und dieselbe sehr hübsch und interessant gefunden. Sie hatte erzählt, daß ihr guter Onkel Anton im Ministerium des Kultus an diesen wohlthätigen, barmherzigen Einrichtungen viel Antheil nehme und nach Kräften in seiner Stellung sich bemühe, dafür zu wirken. Ueber dieses war die junge Schulschwester sehr erfreut und dankbar gewesen. Auch seine Kirche hatte Prudens Hahnemeyer seinem diesmaligen Gast aus der Weltlichkeit aufschließen und zeigen müssen, und die Fremde hatte sich sehr gut und still darin betragen. Sie hatte leise erzählt, daß sie auf Reisen sehr gern in solche kleine Kirchen gehe und sich still in einen Stuhl setze, vorzüglich in katholischen Ländern, wo man nicht erst den Küster mit seinem Schlüsselbund zu holen brauche. Von allerlei Kirchen, an welche diese gegenwärtige Kirche sie erinnerte, hatte sie gesprochen, hatte dann nach den Todtenkränzen hinter dem Altar gefragt und die Tafel mit den Namen der drei aus dem Dorfe im Franzosenkriege Gefallenen gelesen. Dabei hatte sie mitgetheilt, daß auch einige von ihren Verwandten mit im Felde gewesen seien, und daß ein junger Vetter von ihr, ein guter prächtiger Junge, auch vor Metz gefallen sei und bei Saint-Privat unter der Garde mit begraben liege. Hierdurch war die Rede ganz natürlich noch mehr auf Leben, Sterben und Begrabenwerden der Menschen gekommen, und da der Pastor Prudens nun wirklich nicht länger Zeit hatte, sondern in sein Studirzimmer zu seiner Predigt zurück mußte, so hatte Fräulein Valerie Fräulein Phöbe sanft unter den Arm genommen und ihr zugeflüstert:

„Wie furchtbar ernst und wie böse auf mich Ihr Herr Bruder ist, Liebste! Ich gefalle ihm gewiß nicht recht; – es thut mir leid, aber ich kann wirklich nichts dafür. Und Sie, Sie müssen doch wohl manchmal ein recht schweres Leben bei ihm haben, in seiner Schweigsamkeit?! Wir wollen ihn jetzt gehen lassen zu seinen Büchern. Ach, wenn er nur wüßte, wie grade uns bunte Thörinnen im öden Lärm und Wirbel da draußen unter unserer Tanzmusik dann und wann die bitterste Sehnsucht nach solcher Stille und Ruhe wie hier um ihn und Sie überkommen mag! Dann sähe er nicht so verdrießlich auf mich hin! Bleiben Sie freundlich, aber lassen Sie auch uns wieder ins Freie. Mich fängt an hier zu frösteln, lassen Sie uns wieder in die Sonne, Phöbe, – in dieser Kühle merkt man es erst, wie sehr die Sonne zu Einem gehört, schiene sie uns selbst auf einem Kirchhofe. Er ist zu seinen Büchern, lassen Sie uns auch gehen, Liebe, Süße; – zeigen Sie mir das Grab der Fee.“ …

„Das Grab der Fee?“ hatte Phöbe gefragt.

„Das letzte, das jüngste Grab auf Eurem Friedhof, Kind! In der Gesellschaft da unten war viel Redens darüber, was der Staat, die Polizei und Kirche mit dem armen Mann anzufangen habe, der wie Michel Kohlhaas im Streit, nicht mit den Junkern, sondern mit seines Gleichen liege. Ich aber möchte den Hügel seines todten Weibes sehen, Fräulein Hahnemeyer!“

Die Stimme, mit der das gesagt oder geflüstert wurde, war plötzlich hart und rauh geworden, der Gesichtsausdruck der schönen lachenden Fremden strenge und zornig. Ueberrascht, erschreckt, einen Augenblick mit unsäglicher Angst, blickte Phöbe Hahnemeyer auf den Gast, aber nur einen Augenblick; dann neigte sie das Haupt und wies stumm unter der Kirchthür mit jener ruhigen Anmuth, die aus der höchsten Höflichkeitsschule der Welt stammt, den Pfad an und schritt auf ihm voran. Aus Halah-Schmerzhausen wußte sie, wie verschiedenartiges Elend es auf Erden gab, und was Menschen auf ihr leiden müssen.

Sie öffnete die kleine Pforte in dem niedrigen Zaun und ließ die Fremde vorantreten:

„Dort links, dem Felsen zu.“

Die rothe Abendsonne überglänzte wieder die Gräber des Dorfes, die Klippen, Tannen und einzelnen Steinblöcke umher, die Berge und die weite Ebene über die Berge hinaus. Die beiden Mädchen hatten die Schönheit und die tiefe Stille ganz für sich allein.

„Hier hat der Herr die arme Anna Fuchs in seinem Frieden gebettet.“

Valerie, ihr weißes Taschentuch in den erregten, zitternden Händen zerzerrend, flüsterte:

„Ich weiß es ja wohl, wie Sie ihm dabei geholfen haben! Von dem Freunde drunten im Kurhause, im Narrenschwarm habe ich es gehört, auf welche liebe, aber sonderbare Weise Sie es fertig gebracht haben, den Räkel zu zwingen, Euch und der dummen Welt zu Willen zu sein. Es verlohnte sich der Mühe!“

„O!“

Das war ein Aufblitzen des Schmerzes, des Zornes, wie ihn die junge lutherische Nonne bis jetzt nimmer in ihrer Seele erfahren hatte. War das jetzt erst die richtige Welt, von der der Herr wußte, daß es den Seinigen besser sei, wenn sie nichts damit zu schaffen hätten? Hatte jener Mann aus dem unbekannten Treiben auch Dieses zu einem Unterhaltungsthema drunten im Lärm der Erde gemacht? Hatte er so gesprochen, daß diese Unbekannte, diese ganz unbekannte Fremde, sich das Recht nahm, so hier zu sprechen?

Wie diese rothe Sonne blendete! Und was war das? Diese Fremde, diese Unbekannte legte ihr, der armen Phöbe, jetzt heftig und doch wie schwesterlich-zärtlich den Arm um die Schultern und rief weinend:

„O, wußtest Du genau, was Du thatest, als Du Dich so bandest, und ihn an Dich?! Dachtest Du nicht vorher nach, ob Du nicht Anderen – einer Anderen hierdurch wehthun könntest – für alle Zeit, für ihr ganzes armes Leben?! …“

Doch nun war es, als seien die Rollen, wenn dieses der richtige Ausdruck hier sein kann, zwischen den Beiden ausgetauscht. Erbleichend und schwerathmend machte Phöbe sich frei von dem Arm Valerie’s. Streng und hart sah sie ihr in das leidenschaftliche zuckende Gesicht, und hart und klar war die Stimme, mit der sie fragte:

„Also deßhalb sind Sie zu mir gekommen?“

„Ja, ja – ja!“

„So fragen Sie die Todte da unten und den barmherzigen Gott über uns, wem zu Ehren ich meinen Schrecken über den Einfall überwand; wem zu Liebe ich hierzu eingewilligt habe. O, und nun gehe wieder und laß mich allein in meiner neuen Verstörung. O, Du hattest kein Recht, mich an diesem Orte so zu ängstigen. Gewiß nicht! O bitte, nun gehe zurück zu den Deinigen und laß mich versuchen, hierüber mit meinen Gedanken zurecht zu kommen; – ich habe diese Sonne jetzt wie blutige

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 546. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_546.jpg&oldid=- (Version vom 29.3.2024)