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verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

noch nie durchgegangen ist oder einer Reiterin Ungelegenheiten bereitet hätte. Ach, hättest Du mich bei meinem ersten Ritte gesehen! Ich hatte das durchbrochene Grenadinekleid an, das Hellgelb paßte außerordentlich zu der grauen Farbe des Thieres.

Das Amüsanteste bleibt aber der Strand. Man kann stundenlang dasitzen und auf das Meer hinausschauen und über das Räthsel der Unendlichkeit nachdenken. Ich will das auch gewiß noch thun, vorläufig giebt es für mich aber noch viel Anderes zu sehen. Ach diese Toiletten, man wird nicht müde, die weiblichen Erscheinungen zu mustern! Und wie reizend die Kinder angezogen sind, zum Küssen! In Atlas und Seide liegen sie im Sand, ich würde das Gustel nie erlauben. Man hört hier in allen Sprachen konversiren, Ostende ist ein Bad „pour tout le monde“; der liebenswürdige Russe, ein Bekannter unsrer L–s, hat mir, gründlich wie er ist, heute einige Notizen auf meinen Holzfächer geschrieben, die ich Dir mittheile, damit Du ein Bild von der bunten Gesellschaft Ostendes erhältst. Im vorigen Jahre haben hier 15048 Belgier, 5257 Franzosen, 4018 Engländer, 3978 Deutsche, 697 Russen, 562 Amerikaner, 478 Ungarn, 474 Holländer, 111 Schweizer, 104 Serben, 87 Italiener, 40 Spanier, 29 Afrikaner, 25 Asiaten, 14 Australier, 5 Türken, 4 Griechen etc. gebadet, die Zahl der Besucher schwankt zwischen 35- und 40 000; und das in den vier Monaten Juni bis September!

Das Merkwürdigste ist, daß ich noch Niemand gesprochen habe, der sich in meiner Lage befindet und zum ersten Male ein Seebad gebraucht. Die Meisten kennen bereits Scheveningen, Trouville, Biarritz, Norderney, Helgoland oder wenigstens Heringsdorf. Aus den Vergleichungen entnehme ich, daß das eleganteste Badeleben sich in den französischen Seebädern entwickeln soll, der Strand soll dem Boulevard des Italiens in Paris gleichen und in Bezug auf „chic“ soll dort das Höchste geleistet werden. Frau von B., die auch hier ist, aber morgen abreist, erzählte mir, daß sie in Trouville ein Vermögen ausgegeben habe, sie ist allerdings gewohnt auf großem Fuß zu leben. Trotzdem habe ich mir vorgenommen, jenes großartige Leben im nächsten Jahr, wenn es meine Gesundheit erlaubt, kennen zu lernen. Der Doktor wird mir wohl seine Hilfe nicht versagen, und wenn ich, so Gott will, nur halbwegs leidend bin, wird mir’s Karl nicht abschlagen. Das Meer, von dem ich eigentlich eine richtige Vorstellung nicht hatte, ist gar nicht so wild, wie ich dachte, es ist sogar sehr artig und sendet nur ruhige, flache Wellen an den sandigen Strand, man wird bald vertraut mit ihm und man verlernt förmlich allen Respekt vor dem gewaltigen Ocean, den Schiller z. B. im „Taucher“ so schrecklich schildert. Vielleicht hat unserem Dichterfürsten das Bild des Meeres an der Küste von Biarritz vorgeschwebt, wo es Riffe und Felsen giebt, hier findest Du nur Sand, und man muß

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verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1885, Seite 513. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_513.jpg&oldid=- (Version vom 28.3.2024)