Seite:Die Gartenlaube (1885) 483.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1885)


Wer weiß, ob nicht in den letzten Tagen der Belagerung jene Zusammenkunft stattgefunden, ehe die Würfel des Schicksals gefallen waren und der Verrath Mahomed, dem Machdi, dem Sohne von Abd-Allah die Thore Khartums öffnete!

Seit dem letzten „Lebt wohl!“, das Gordon den britischen Soldaten durch sein Tagebuch sandte, hielt er sich noch einige Wochen länger, als er selbst glaubte im Stande zu sein, aber die Hilfe von außen kam dennoch nicht zeitig genug. Die von ihm selbst lange vorhergesehene Stunde nahte. Er fiel, ein Opfer seiner Pflicht, treu ausharrend auf dem ihm anvertrauten Posten. Ganz England trauert noch heute um seinen Heldensohn, und die Vorwürfe, die es sich machen muß, können die Trauer nur doppelt schmerzlich machen.

Kein Wunder, daß, sobald die Trauerkunde einlief, der Plan gefaßt wurde, dem großen Mann ein nationales Denkmal zu errichten. Aber welche Form sollte dasselbe erhalten? Ein Mann, der bei seinen Lebzeiten alle äußeren Ehrenbezeigungen verachtete und – wie sich erst nach seinem Tode alles so recht herausstellte – die ihm verliehenen Ehrenzeichen in Geldeswerth umwandelte, um die Hungerigen zu speisen, ein Mann, der schon eine Einladung zu einem Gastmahl fast wie eine Beleidigung zurückwies, da Tausende seiner Mitmenschen nicht wüßten, wie sie auf das nothdürftigste ihren Hunger stillen sollten und daher für sie eine solche Einladung besser am Platze wäre, ein solcher Mann hatte niemals nach der Ehre gestrebt, sein Bildniß in Stein gehauen zu sehen und sich auf diese Weise von der Menge bewundern zu lassen. Seine Freunde waren die Armen und Nothleidenden gewesen, seinen Ruhm hatte er darein gesetzt, ihr Los zu bessern – wie konnte man sein Andenken besser ehren, als dadurch, daß man sein segensreiches Wirken auch nach seinem Tode lebendig erhielt?

Das National-Gordon-Memorial, zu dem die Beiträge von allen Seiten noch immer reichlich einlaufen, wird daher die Gestalt eines „Lagers“ annehmen, das in der Nähe von London für verwahrloste Knaben errichtet werden und ihnen nicht nur Unterhalt, sondern auch Erziehung gewähren soll. Die Idee findet so allgemeinen Anklang und die Zweckmäßigkeit einer solchen Einrichtung liegt so klar zu Tage, daß einzelne Städte der Provinz noch besondere „Gordon camps“ für die eigene verwahrloste Jugend errichten werden. F. Br.     


Das Goethe-Archiv und die Goethe-Gesellschaft.

Von G. von Loeper.

Für die Litteraturforschung ließ sich kein wichtigeres Ereigniß denken, als die Erschließung des Goethe-Archivs. Den letzten Enkel des Dichters, Walter von Goethe, ereilte im April dieses Jahres unerwartet der Tod, und seitdem sind aus der mehr als fünfzigjährigen Verborgenheit alle Kunstschätze, welche der Sammeleifer des Dichters in einem langen Leben vereinigt, und alle Handschriften, welche er als Zeugen nie stockender Produktion, seines Lebens und seines Verkehrs mit den Zeitgenossen hinterlassen hatte, an das Licht gebracht und der Anschauung oder der Forschung und Benutzung übergeben. Die Lösung vieler Fragen, über welche die Gelehrten sich nicht einigen konnten, hier liegt sie klar ausgesprochen; chronologische Bestimmungen, persönliche Beziehungen, vervollständigende Lesarten längst bekannter, sowie Entwürfe unbekannter oder unvollständiger Schriften, – das ganze Material für die Geschichte und die Kritik der Goethe’schen Werke, hier liegt es vor uns ausgebreitet. Wir hoffen, dasselbe wird der Nation allgemein zugänglich werden, sobald ein geeigneter Aufstellungs- und Aufbewahrungsort für das Archiv gefunden und die beabsichtigte neue authentische Textausgabe jener Werke auf Grund desselben hergestellt sein wird.

Freilich wird nach der Benutzung des Archivs die Gestalt der Werke des Dichters doch im Großen und Ganzen unverändert bleiben, wenn sie auch sehr erheblich vervollständigt werden. Zahllose, auf alle Lebensperioden des Dichters sich erstreckende kleine Gedichte lyrischer Art, zahme Xenien, Invektiven, politische Verse, Erotika, Gnomen gewähren eine große Ausbeute, obschon nicht alles Unvollendete sich zum Druck eignet. Dasselbe ist der Fall mit mehreren dramatischen Entwürfen, von welchen „Das Mädchen von Oberkirch“, der Anfang einer politischen Tragödie aus der Revolutionszeit, in Weimar an den Tagen des 20. und 21. Juni ausgelegt war. Der „Groß-Kophta“ in der ursprünglichen Opernform („die Mystificirten“) und der Entwurf eines historischen Volksbuchs aus dem Jahr 1808 bieten gleichfalls großes Interesse. Wichtiger ist die Möglichkeit, bei einer großen Zahl von Werken künftig auf des Dichters Handschrift oder auf gleichwerthige, von ihm korrigirte Abschriften zurückgehen zu können, wie auf die der Mitschuldigen, von Lila, von Jery und Bätely, den Vögeln, dem Triumph der Empfindsamkeit, Elpenor, Iphigenia (beide in Prosa und in Jamben), Tasso, Egmont, Reineke Fuchs, Hermann und Dorothea, Achilleis etc. Aus der späteren Zeit sind besonders reichhaltige Handschriften des Divan und des zweiten Theils von Faust vorhanden, während die Entwürfe zum ersten Theil des Faust und zu Wilh. Meister’s Lehrjahren nicht aufgefunden werden konnten. Die Italienische Reise wiederum ist durch reiche Handschriften vertreten.

Die zweite Hauptrubrik bilden die Tagebücher, welche für eine Biographie des Dichters und die genauere Geschichte seines Geistes, trotz aller Lücken (1783 bis 1795), eine verbürgte und sichere Grundlage versprechen, wie eine solche für das Leben keines anderen großen Dichters existirt. Aus kleinem Kalender-Quartformat gehen die Tagebücher, als Eintragungen in den ehemaligen Gothaischen Kalender, in ein Großoktav- und seit dem Jahre 1817 in Folioformat über. Am 11. März 1776 angefangen und seit 1796 ununterbrochen fortgeführt, endigten sie erst am 16. März 1832. Nur die Zeit um Schiller’s Tod zeigt eine größere Lücke, und es bewahrheitet sich, was Goethe in den „Tag- und Jahresheften“ von derselben berichtet: „Meine Tagebücher melden nichts von jener Zeit, die weißen Blätter deuten auf den hohlen Zustand“; erst auf der Reise nach Helmstedt mit F. A. Wolf, im Sommer 1805, füllen sich wieder die Blätter.

Die dritte Hauptrubrik machen die Briefe aus, abgesendete wie eingegangene, die letzteren seit 1793 jährlich in meist vier Folioheften gesammelt. Von Goethe’s eigenen Briefen sind hervorzuheben diejenigen aus der Leipziger Universitätszeit 1765 bis 1768 an seine Schwester und an seinen Freund Behrisch, welche im nächsten Bande des Geiger’schen Goethe-Jahrbuchs erscheinen sollen, mit wichtigen chronologischen Bestimmungen für die Dichtungen jener Zeit, für die Dresdener Reise und des Dichters Bekanntenkreis, ferner aus der Weimarischen Zeit (1776 bis 1790) 38 Briefe an den Minister von Fritsch (darunter 2 aus Rom) und besonders die seit 1792 nicht unterbrochene Reihe der Briefe an seine Gattin. Wenn auch diejenigen von der Venetianischen und Schlesischen Reise zu fehlen scheinen, so wird doch mit dieser nach Jahrgängen wohl geordneten Sammlung ein unerwarteter Schatz gehoben werden.

Immer gleich in Wärme und Innigkeit des Tons, geben die Briefe, unter welchen auch das bekannte „Ich ging im Walde so vor mich hin“ als ursprüngliche Reise-Epistel (1813) mit genauer Ort- und Zeitangabe sich findet, ein richtiges Bild von dem gegenseitigen Verhältnisse, zumal auch viele Briefe der Frau erhalten sind, sowie reiche Aufschlüsse über das äußere Leben und die Schöpfungen des Dichters. Nur aus dem Todesjahr der Frau, 1816, sind keine Briefe vorhanden, um so reicher aus den drei vorhergehenden Jahren. Von den Briefen der Frau Rath sind 180 vereinigt, deren mehrere aber noch in den zusammengebundenen Jahrgängen zerstreut vorhanden, dazu auch einige 30 von Goethe’s Schwager Schlosser. Von Frau von Stein finden sich aus der späteren Zeit (etwa von 1802 an) nur kleine Zettel, von Haus zu Haus geschrieben, ohne wichtigen Inhalt, aber in herzlichem und achtungsvollem Ton. Dazu eine Fülle von Briefen anderer Korrespondentinnen, deren etwa 400 vereinigt und außerdem noch viele jahrgangsweise zerstreut (z. B. von Amalie Imhof, den Schwestern Meyer, späteren Frauen von Eybenberg und Grotthuß, Frau Unger, Frau Sander, zwei Gräfinnen O’Donnell, Gräfin Tina Brühl etc.). Eine besondere Erwähnung möchten ein paar Briefe von Lotte Buff (Frau Kestner) seit 1798 und der Lilli Schönemann (Frau von Türckheim) und ihrer Familie seit 1801 verdienen. Auch die schon gedruckten Briefe, z. B. von dem Großherzog Karl August, von Herder, Schelling, Nicolovius (seit 1795), Fichte, Reichardt, F. A. Wolf, Carlyle (14 Briefe), Felix Mendelssohn, Goethe’s Sohne und von fürstlichen Personen, besonders des Weimarischen Hauses.

Zu allem diesen tritt nun der künstlerische, der wissenschaftliche, besonders naturwissenschaftliche und der amtliche Nachlaß, und wer endlich sich von dem Hauswesen des Dichters unterrichten will, findet dessen Hausrechnungen aus der ganzen Weimarischen Zeit beisammen.

Das ganze Leben des Dichters entfaltet sich hier somit in unvergänglichen Zeugnissen vor unseren Blicken. Pietätvoll haben die Enkel die Kunstsachen dem Großherzoge von Sachsen als Landesherrn, die Schriftstücke seiner erhabenen Gemahlin vermacht. Unter ihrem Schutze und unter dem Vorsitze des Reichsgerichts-Präsidenten Simson ist im Juni zu Weimar, bisher schon dem Sitze einer Shakespeare-Gesellschaft, eine den Namen unsers großen einheimischen Dichters führende neue Gesellschaft von etwa 200 Mitgliedern, Gelehrten und Ungelehrten, zusammengetreten, um jenes Vermächtniß für die Nation in einer dem heutigen Stande deutscher Wissenschaft entsprechenden Weise zu verwerthen, das bisher Unbekannte zu veröffentlichen, die Werke neu zu ediren, und das Lebensbild des Dichters von den verschiedensten Seiten aufzustellen. Es ist damit der Grund gelegt für eine wahre Goethe-Akademie. Nord- und Süddeutschland und Oesterreich sind darin vertreten. Die Mitgliedschaft steht jedem gegen einen nicht nennenswerthen Beitrag offen. Sollten bisher Zögernde zum Eintritt in diese „Weimarische Goethe-Gesellschaft“ durch vorstehende Worte bestimmt werden, so haben sie ihren Zweck voll erreicht.


Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1885, Seite 483. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_483.jpg&oldid=- (Version vom 19.3.2024)