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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

nur nicht daran gedacht. Wir hatten wohl gleich vom Anfang unseres Hierseins recht viel mit den Menschen zu thun, und ich bin auch ein wenig unerfahren hierin –“

„Und die Welt rundum ist ja selbst nur ein größerer Garten!“ half ihr Veit von Bielow, lächelnd. „Man hat sich ja auf allen Seiten, nach allen Richtungen hin gegen das schöne Andringen von Busch und Baum und Blume zu wehren. Sie sind doch eine Gärtnerin, Fräulein Phöbe; und zwar auf einem der wundervollsten Flecke dieser Erde. Man sieht nicht aus jedem Fenster in den Häusern der Menschen in solch’ eine künstlerisch-glorreiche Wildniß hinein, und man hat leider nicht von jeder Thür aus so viele Wege zum Lustwandeln zur Auswahl, liebes Fräulein.“

„Wir sind diese Wege nach dieser Weise noch nicht gegangen,“ sagte Phöbe Hahnemeyer; und der Gast, sie fast scheu von der Seite anblickend, dachte: „Armes Kind, unter welchen steinernen Augen und Herzen mußt Du aufgewachsen sein; in was für harten Mauern hat man Dich gefangen gehalten!“

Laut fragte er:

„Sie wohnen schon längere Zeit hier bei Ihrem Bruder?“

„Er hat mich erst, nachdem er hier das Amt bekam, zu sich rufen können. Es sind zwei Winter –“

„Zwei Winter! … Und Sie wohnten bis dahin –“

„Ich war Pflegerin und Lehrerin der kleinen Kinder in der Idiotenanstalt zu Halah.“

Der Gastfreund aus dem Tagesleben trat unwillkürlich einen Schritt zurück:

„O, da war dieser Ruf Ihres Bruders, meines Freundes Prudens, in der That ein Ruf der Erlösung, ein Ruf der Freiheit?!“

„Ich ging nicht gern. Die Kleinen hatten mich lieb; es ist so schwer, ihr Vertrauen zu gewinnen, und auch nicht leicht, die ärmsten unter ihnen ohne eigenen Zorn im Zaume zu halten. Ich bin mit bangem Herzen gegangen, denn sie weinten fast alle – die, welche das können, nämlich. Ich hatte mich in sie hineingelebt.“

„Und da fürchteten Sie nun für Ihre armen Schutzbefohlenen unter dem neuen Regime Ihrer Nachfolgerin?“

„Nicht für die Kinder, denn die hat der Herr besser gewappnet, als man draußen wohl denkt; aber für die arme Schwester Therese. Es ist nicht Jedem gleich leicht gemacht, seine Seele zu demüthigen und sich mit allen seinen Gedanken in die Gedanken der Unmündigen des Herrn zu finden und mit sich selber ganz und gar bei ihnen in ihrem Kreise zu bleiben und ihnen zu helfen, daß sie darüber hinaussehen können.“

Des Gastfreundes Betroffenheit steigerte sich mit jedem Worte, das dieses Mädchen aussprach. Je unbefangener, ruhiger, kindlicher sie auf jede seiner Fragen antwortete, desto gespannter, aber auch desto scheuer (wir wissen keinen andern Ausdruck) fragte er weiter:

„Prudens wird es sehr wohlgethan haben, Sie zur Gesellschaft und Hilfe bei sich zu haben? … Aber er hätte Sie doch lieber im Frühling hier in die neuauflebende Schönheit der Natur versetzen sollen, und nicht, wie ich Ihren Worten entnehmen muß, zu Anfang oder gar inmitten des Winters.“

„O nein! Es konnte sich gar nicht besser fügen, wenn ich ihm zur Hilfe und Gesellschaft vom guten Gott zugeschickt werden sollte. Die Winter sind gewaltige Zeichen des Herrn auf diesen Höhen. Ich gelangte nur noch mit Mühe und Noth zu unserer Hausthür, aber darum auch grade zur rechten Zeit. In der Nacht nach meiner Ankunft wuchs der Schnee um das Haus schon bis über die Mitte der Fenster des Unterstocks. Da öffneten wir die Thür noch einmal zu einem Wege ins Dorf. Nachher war das nicht mehr möglich, und der Schnee lag wochenlang bis an die Fenster des Oberstocks; auch bis unter das Fenster Ihrer Schlafkammer, Herr Baron. Da waren wir Geschwister freilich allein mit einander, und durch den lieben Gott auf uns allein angewiesen. Denn auch mein Bruder hatte noch keinen Winter hier erlebt, da er erst mit dem Frühjahr, zu Ostern, eingezogen war in die Pfarre. Und sie hatten wohl vergessen, ihn zur rechten Zeit aufmerksam zu machen, daß er sich vorzusehen und mit allerlei Lebensbedürfnissen zu versorgen habe für den Januar und Februar, um mancherlei Unbequemlichkeiten zu entgehen. So haben wir nun einige Zeit leben müssen, als ob wir die Einzigen, Letzten seien, die der Herr vor seinem Wiederkommen zum Gerichte auf der Erde in Dämmerung und Dunkelheit gelassen habe. Das Oel ging uns aus, an Brot vom Bäcker war nicht zu denken; und recht unangenehm war’s, als wir in den letzten Tagen unserer Gefangenschaft durch den Schnee auch kein Salz mehr besaßen. Aber wir brieten unsere Kartoffeln in der Asche, und das ist sehr gut. Und um Trinkwasser zu bekommen, brach Prudens die Eiszapfen, die er von den Fenstern erreichen konnte, rund um das Haus vom Dachrande ab.“

„So waren Sie tagelang von allem Verkehr mit der Außenwelt abgeschnitten?“ rief Veit.

„Wohl einige Wochen; – wie Seefahrer, eingefroren auf einer Scholle im Eismeere,“ sagte Phöbe lächelnd.

„Wochenlang – in Dämmerung und Dunkelheit – eingesperrt mit keinem andern Menschenkinde als meinem Freunde und keinem andern Menschengesichte als dem Ihres Bruders – meines – sehr – guten – Freundes?!“ murmelte der Gastfreund, jetzt wirklich schaudernd.

„Es war sehr lieblich und voll Segen. Mein Bruder hat mir da manche Zeichen deuten können, an denen ich bis dahin unwissend und unachtsam vorbeigegangen war. Wir haben bei einander gesessen, und er hatte Zeit für mich, mich zu belehren, und meine Seele hat sich mehr und mehr in die seinige finden können.“

„Und Sie haben es wieder möglich gemacht, auch in diesem Kreise sich des eigenen Willens zu entäußern wie unter den Idiotenkindern zu Halah – Schmerzhausen in der Uebersetzung in unser Deutsch?!“

„Es hat Vieles Platz in dem Ringe, den mein Bruder um sich gezogen hat. Weßhalb nicht ich mit meiner unverständigen, kindischen Seele?“

„Aber die Frühlingsstürme kamen, der Schnee schmolz, oder die Bauern gruben wieder Wege durch ihn, und die Schwester und der Bruder gingen wieder aus der Thür – in die Welt – zu den Nachbarn, Phöbe?!“

„Gott ist langsam oder rasch nach seinem Willen in allen seinen Werken, in seiner Liebe und in seinem Zorn. Auch der höchste Schnee schmilzt im Augenblick vor seinem Hauch. Hier auf den hohen Bergen läßt er den Frühling in Wahrheit über Nacht kommen. Wir gruben zuerst einen Weg durch diesen Garten zu seinem Hause. Dann schaufelten die Nachbarn, welchen in ihrer Abgeschlossenheit doch Kinder geboren und Kranke gestorben waren, einen Pfad zu uns hin; aber das war eigentlich schon unnöthig. Nun war es sehr schön, in wenigen Tagen die Wälle, die um uns geschichtet lagen, sinken zu sehen, bis der erste Sonnenstrahl wieder in mein Stübchen dort im Erdgeschoß fallen konnte. Rundum schüttelten auch die Tannen ihre weiße Last ab – da war schon Grün von ferne; aber köstlicher war doch der erste schwarze Fleck Erde, der dort unter den alten Gräbern des alten Kirchhofes zum Vorschein kam. Da hab’ ich mich wohl in die Seele Derer in der Arche versetzen können, als die Taube wieder auf des Erzvaters Hand zurückflatterte und ihm ein Blatt vom Oelbaum mitbrachte zum ersten Zeichen vom Frieden Gottes mit seiner sündigen Erde. Ja, da durften auch wir wieder aus unserer Arche und Einsamkeit treten und fröhlich nicht unter die Todten auf dem wüst und leer gewordenen Acker, sondern wieder hin zu unsern lebendigen Brüdern und Schwestern; denn – so lange die Erde stehet, soll nicht aufhören Samen und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht. Mein Bruder führte mich zu den Häusern, die unsere Gemeinde ausmachen; da habe ich viel Freundliches erfahren von den Leuten, jung und alt, und mich nachher oft geschämt, daß ich doch nicht ohne Angst nach Hause kam. Es ist aber so, der Herr will uns durch unsere Schwachheit erinnern, daß wir immer das im Gedächtniß behalten, wie wir allezeit umfangen sind in der Sünde, und daß es nur seine Gnade ist, die uns rettet in seine Versöhnung. Der farbige Bogen seines Bundes, der zuerst auf dem Gebirge Ararat stand, leuchtete auch über diesen Bergen bei unserer Heimkehr, und Prudens deutete mir tröstlich das Wort: ‚Das Dichten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf; und ich will hinfort nicht mehr schlagen alles was da lebet, wie ich gethan, habe. Und wenn es kommt, daß ich Wolken über die Erde führe, so soll man meinen Bogen sehen in den Wolken.‘“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 478. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_478.jpg&oldid=- (Version vom 7.9.2022)