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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

zeigen sich schon im zwölften Jahre die ersten Symptome, beim anderen vielleicht erst im fünfzehnten, aber eine bestimmte Periode der „Affektation“ haben die meisten unserer Töchter durchzumachen, und sie werden dieselbe um so rascher und glücklicher überstehen, je weniger wir Mütter uns bemühen, dabei hilfreich einzugreifen. Das kostbare „Werden lassen“, dieses goldene Wort für die Erziehung, hat auch hier seine volle Kraft und Bedeutung. Nur grobe Verstöße gegen die geselligen Formen rüge man in ruhig ernster Weise und vermeide dabei allen Spott, der beim Erziehungswerke Gift ist; sonst aber darf man nur indirekt auf die Entwickelung dieser Krisis einzuwirken suchen. Doch wir müssen zunächst die Krankheit selbst genauer kennen lernen, bevor wir Heilmittel gegen dieselbe verordnen.

Sie beginnt stets mit dem Zeitpunkt, wo das junge Wesen anfängt, sich beachtet zu sehen. Mit dem ersten langen Kleid, mit dem ersten Kompliment, das ihr ein Geck zuflüstert, beginnt diese Periode der Ziererei. Das Mädchen fühlt sich als Erwachsene; es sieht plötzlich alle Spiele und Beschäftigungen, die es noch gestern herrlich unterhielten, als unter seiner Würde an, vermag aber doch noch nicht, den Unterhaltungen und Gesprächen der Erwachsenen überall zu folgen. So entsteht eine gewisse leidige Zwischenzeit, in welcher sich das arme junge Wesen sehr unbehaglich fühlt. Ganz natürlich hält es nun Umschau und beobachtet das Benehmen der älteren, geübten Genossinnen. Dies ist der kritische Augenblick!

Irgend eine der älteren Freundinnen imponirt dem „Backfischchen“, das nunmehr deren Ansichten und Manieren möglichst getreu zu kopiren sucht. Es bemüht sich, auch so zu sprechen, zu gehen, zu lächeln und sich zu verbeugen wie dieses Ideal. Selbstverständlich fallen diese Versuche oft sehr unglücklich aus, und Niemand fühlt das deutlicher, als die junge Novize der Gesellschaft selbst. Da hört sie vielleicht das Lob einer andern beliebten Dame singen, deren Wesen zufällig sehr verschieden ist von dem des ersten „Ideals“. Bewußt oder unbewußt versucht sie nun, dieser Andern nachzuahmen. Hat sie sich vielleicht einige Wochen lang durch unnatürlichen Ernst hervorgethan, so springt sie jetzt plötzlich zu sprudelnder Lebhaftigkeit über. Die Mutter aber steht entsetzt vor dem räthselhaften Wesen ihres Kindes und kränkt sich unaufhörlich über die unbegreifliche „Affektation“, die dem Mädel angeflogen ist, man weiß gar nicht wie und woher! Jetzt stürmt sie mit Klagen, mit Ermahnungen auf das Töchterchen ein, und dieses – ein gutes gehorsames Kind – will ja gern der Mutter gefällig sein. Es bemüht sich also nach besten Kräften „natürlich“ zu werden, es denkt bei jedem Schritt, bei jeder Bewegung an diese neueste Aufgabe, und – o Jammer! – nun wird erst die allergräulichste Zierpuppe zu Tage gefördert.

So quälen sich Mutter und Kind fort, ein paar Jahre lang. Auf einmal ändert sich die Sache ganz von selbst. Der Entwickelungskampf der jungen Seele ist ausgekämpft, die Kinderschuhe sind abgestreift – ach leider! die lieben Kinderschuhe, die man nie wieder anziehen darf! – und der junge Mensch steht fertig vor Dir, mit seinen Tugenden und Fehlern, wie er nun eben geworden ist, aber affektirt wenigstens ist er nicht mehr. Das ist der gewöhnliche Gang der Dinge bei gesund veranlagten Naturen, die in gesunden Verhältnissen reifen.

Freilich giebt es auch eine gleichsam chronische Affektation, die nie wieder heilt, aber sie ist kaum mehr mit diesem Namen zu nennen. Wer nach dem zweiundzwanzigsten Jahre immer noch affektirt bleibt, dem ist wohl dieser Zustand zur andern Natur geworden. Es sind dies arme, geistesbeschränkte Wesen, die wir nur bedauern müssen und mit jenen kränklichen Menschen vergleichen können, welche von einer Kinderkrankheit für ihr ganzes Leben eine Schwäche behalten haben. Denn wie aus Kinderkrankheiten meist nur durch Vernachlässigung chronische Leiden entstehen, so entstehen auch bleibende Gemüths- oder Charakterfehler größtentheils nur aus falsch geleiteter Entwickelung in der Jugendzeit. Und in der That bedürfen unsere jungen Mädchen in jener Periode, wo sie „affektirt“ werden, der sorgenden Mutterhand vielleicht mehr noch, als während des Scharlachfiebers.

Ist die kritische Zeit gekommen, in der sich das Kind nach „Vorbildern“ umsieht, so muß die Mutter seinen Umgang sehr genau überwachen und darauf sehen, daß – wenn schon nachgeahmt werden muß – wenigstens nichts Schlechtes, nichts Unrechtes dabei angestrebt werden mag.

Laß dein Töchterlein immerhin die Handschuhe nach der Art jener Dame dort aus- und anziehen; kränke dich nicht darüber, wenn sie heute etwas sentimental erscheint und morgen wieder bedauert, nicht „ein Mann“ zu sein, um mit zu Felde ziehen zu können, das Alles sind nur leichte Blasen der Phantasie, die bald genug wieder in Nichts zerspringen.

Aber sollte sich berechnende Koketterie bei ihr anmelden, oder sollten egoistische, lieblose Aeußerungen fallen, dann sei auf deiner Hut und halte scharfe Umschau, woher dieser Lufthauch geblasen kommt. Kein Opfer sei dir dann zu groß, keine Rücksicht zu zwingend, um die junge Seele deines Kindes vor solchem Pesthauche zu schützen!

Daß auch die Lektüre in diesem Stadium der Entwickelung einer besonders strengen Kontrolle bedarf, versteht sich von selbst. Sind es doch nicht nur lebende Vorbilder, sondern ebenso oft die Heldinnen ihrer Bücher, welche unsere jungen Mädchen sich als „Ideal“ zur Nacheiferung erwählen. Fast ist in dieser Beziehung eine gewisse Sorte von „Jugendschriften“ gefährlicher, als wirklich gute, klassische Lektüre. Es giebt eine Unzahl von Büchern mit Pensionsgeschichten, die mir nicht recht behagen. Es treten darin junge Damen auf, die oft recht affektirte Gänschen sind und vom Autor dennoch als Muster hingestellt werden. Solche Vorbilder sind aber sehr leicht zu kopiren, und darin liegt die Gefahr.

Eine Jungfrau von Orleans, eine Walter Scott’sche Heldin erwärmt das Gefühl weit mehr und reizt nicht halb so sehr zu affektirter Nachahmung.

Hauptaufgabe der Erziehung aber bleibt es, das junge mit sich selbst ringende Gemüth unmerklich auf jene Bahnen zu lenken, wo der Kampf ein würdiger, der Sieg ein lohnender ist. Ohne die äußeren Formen des feinen Benehmens hintan zu setzen oder gar zu verachten, müssen wir doch stündlich durch eigenes Beispiel zu lehren suchen, wie viele Dinge es giebt, die unendlich höher stehen, als diese Formen.

Es ist mir oftmals rührend gewesen, zu beobachten, wie eine Schar affektirter junger Pensionsfräulein im Eifer eines anregenden Gespräches, in der Fröhlichkeit eines geistvollen Spieles ganz unvermerkt ihre Geziertheit ablegte; wie bei Erzählung einer schönen großen That die lieben Augen aufleuchteten und – unberechnet – warmer Beifall tief aus den bewegten Herzen brach; oder wie bei anderer Gelegenheit solche junge Mädchen im Eifer werkthätigen Helfens freudig zugriffen, die ganze Wichtigkeit der eigenen kleinen Person vergessend.

Da wären wir denn nun bei der eigentlichen Lösung unserer Frage angelangt: „Das Selbstvergessen ist der Tod jeder Art von Ziererei, und so wie sie im ersten Selbstbewußtsein ihre Entstehung fand, geht sie mit Eintritt des Selbstvergessens unfehlbar unter.“

Die schönste und vollständigste Art dieses Selbstvergessens bringt uns die erste – Liebe. In ihr liegt der naturgemäße und beglückendste Ausgang für alle in diesen Zeilen geschilderten Kämpfe der jungen Seelen. Läge es in unserer Macht, jedem jungen Mädchen zur rechten Zeit diese wirksamste Seelenarznei zu verschaffen, wahrlich, wir bedürften keiner andern! – Da es nun aber nicht in menschliche Willkür gegeben ist, dieses einfachste und sicherste Heilmittel anzuschaffen, so können wir dasselbe nur von einer gütigen Vorsehung für unsere liebe Jugend erbitten und müssen uns bemühen, das unerläßliche „Sichselbstvergessen“ auch auf andere schon angedeutete Weise zu erreichen. Gute, gewählte Lektüre, eben solcher Umgang, viel ernste gediegene Arbeit, an deren Erfolg das junge Mädchen Freude haben kann, liebreiches Eingehen auf ihre Interessen, die man aber allmählich, ihr unbemerkt, von den rein äußerlichen Dingen abzulenken sucht, das sind die Mittel, welche jene edle, wahre „Natürlichkeit“ zeitigen, die niemals gelehrt und anerzogen werden kann, weil sie nur aus dem eigenen klaren, mit sich selbst und der Welt einigen Gemüth entspringt. Es giebt nichts Erbärmlicheres, nichts Kleinlicheres, als eine affektirte Frau, aber ein etwas affektirtes junges Mädchen braucht uns weder ärgerlich noch besorgt zu machen. Nur: „Abwarten“ und: „Werden lassen“, so breitet auch der Schmetterling, der unter dieser Hülle verborgen liegt, bald genug seine Schwingen aus. C. Michael.     


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