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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

nahm die kleine kostbare Uhr aus dem Gürtel, „ich glaube, es wird Zeit, Jenny, daß wir heimfahren; wir wollen Deinen Mann holen; kommt!“

Die drei Damen kehrten in den Garten und an den Tisch zurück, wo die Herren jetzt bei einem Glase Bier und Cigarren sehr behaglich plauderten. Franz war in eifriger Unterhaltung mit Tante Rosa, die in ihrem herrlichsten Putz auf dem Platz thronte, den kurz zuvor Frau Baumhagen verlassen hatte. Trudchen beeilte sich, Mutter und Schwester der alten Dame vorzustellen. Es ging nicht anders, man mußte anstandshalber noch ein wenig Platz nehmen; Frau Baumhagen mit gelangweilter Miene, Jenny mit kaum verhehltem Amusement über die wunderliche kleine Alte.

„Trudchen,“ begann Franz, „Tante Rosa kam, um uns mitzutheilen, daß sie Besuch erwartet.“

„Es stört doch hoffentlich nicht?“ wandte sich die alte Dame an die Hausfrau; „meine Nichte hat mich bis jetzt jedes Jahr besucht. Sie wissen ja von mir, daß das Kind Wald und Berge leidenschaftlich liebt und mich Alte ein wenig aufheitert.“

„Das hübsche kleine Fräulein, von dem Sie uns schon so oft erzählten, Tante Rosa?“ fragte Trudchen liebenswürdig; und als jene eifrig nickte, fuhr sie fort: „O, sie ist von Herzen willkommen, nicht wahr, Franz? Wann trifft denn der Gast ein, und wie heißt sie eigentlich?“

„In den nächsten Tagen erwarte ich sie, und Adelheid Strom heißt sie,“ berichtete Tante Rosa; „‚Heidchen‘ nenne ich sie immer.“ Und nun begann sie eine Verwandtschaftserklärung, wobei der ganzen Gesellschaft schwindlig wurde. „Meiner Mutter Schwester hatte einen Strom, und deren Stiefsohn ist der Vetter von Adelheid’s Großvater –“

Wieder erhob sich Frau Baumhagen sehr geräuschvoll. „Ich muß heim,“ sagte sie, das Gespräch unterbrechend, „es ist die höchste Zeit.“

Jenny, die hinter ihres Gatten Sessel getreten war, legte die Hand auf seine Schulter: „Bitte, den Wagen bestellen!“

„I, was fällt Dir denn ein, Kind?“ sagte er ärgerlich, „wir sind ja eben erst gekommen!“

„Aber Mama wünscht es!“

„Mama? Warum denn?“ fragte er kurz, „wir sind hier in der gemüthlichsten Unterhaltung.“

„Bleiben Sie doch zum Abend, gnädige Frau,“ bat Franz seine Schwiegermutter höflich.

„Ich habe etwas Kopfweh,“ war die Antwort.

Herr Arthur griff sich verzweifelt in seine blonden Haare. Dieses „Kopfweh“ war ja die Keule, mit der beständig jede Vernunftsvorstellung zu Boden geschmettert wurde.

„Gut, so fahrt!“ murmelte er ingrimmig, „ich komme schon mit Onkel Heinrich nach Hause.“

„Ja wohl, ja wohl, lieber Neffe!“ rief der alte Herr vergnügt, „ist mir sehr angenehm, daß Du bleibst; wir wollen den Mosel probiren; wie, Franz?“

„Der Onkel hat mir zur Hochzeit den Weinkeller eingerichtet,“ erklärte der junge Hausherr, indem er sich erhob, um den Wagen zu bestellen.

„Und so kostbar!“ fügte Trudchen hinzu.

„O la la!“ Der alte Herr war aufgestanden und half mit etwas asthmatischer Höflichkeit seiner Schwägerin beim Umlegen des Mantels. „Es war purer Egoismus, Ottilie; nur damit man seinen gewohnten Tropfen kriegt, wenn man hier wegmüde und durstig anlangt.“

„Trudchen,“ flüsterte Jenny und zog die Schwester etwas abseits, „wie kannst Du so thöricht sein und Dir ein junges Mädel ins Haus schmuggeln lassen? Ich sage Dir, es ist geradezu fürchterlich, überall sind sie, immer wissen sie sich bemerkbar zu machen, überall wollen sie helfen und stets sind sie von einer rührenden Aufmerksamkeit gegen den Hausherrn. Es ist wirklich rücksichtslos von der Alten, daß sie Dir dies zumuthet; erfinde doch irgend etwas, daß das Mädel nicht kommt. Ich spreche aus Erfahrung, Herzchen; Arthur hatte einmal eine Kousine eingeladen, Du weißt ja; Herr Gott, ich bin bald gestorben vor Aerger!“

Trudchen lachte.

„Ach Jenny,“ sagte sie kopfschüttelnd. Dann eilte sie ihrer Mutter nach, die bereits im Wagen saß. „Kommt bald einmal wieder,“ bat sie freundlich, als auch Jenny Platz genommen.

„Ich erwarte zunächst Euren Besuch,“ war die Antwort; „Ihr werdet wohl überhaupt daran denken müssen, ein paar Besuche zu machen in der Stadt.“

„Wir haben in der That noch nicht daran gedacht,“ erwiderte Trudchen heiter.

„Bitte, sorge, daß Arthur nicht erst in sinkender Nacht zurückkehrt. Onkel Heinrich sitzt, wo er sitzt,“ schalt Frau Jenny ärgerlich.

Und fort rollte der Wagen.

(Fortsetzung folgt.)

Natürlichkeit und Affektation.

Sei doch nicht so affektirt, benimm Dich ganz einfach, natürlich!“

Wie oft hört man das als Ermahnung oder mit seufzendem Tadel rufen! Aber liebe Mutter, Tante oder Erzieherin, weißt du auch, welche unerfüllbare Forderung du mit diesem Wort an das arme junge Geschöpf stellst? Es wird sich freilich jetzt aus Leibeskräften bemühen, „natürlich“ zu sein, dabei aber sicherlich nichts erreichen, als einen noch höheren Grad der Geziertheit.

Natürlich, unbefangen natürlich in jeder Lage des Lebens und den verschiedensten Personen gegenüber, kann nur eine ausgebildete Natur, ein fertiger Charakter sein. So lange aber das junge Wesen sich beständig beobachtet, ermahnt oder getadelt weiß, wird es niemals frei aus sich heraus gehen und sich so geben, wie es wirklich ist. Die jedem jungen Mädchen eigene Befangenheit wird sich stets in gezwungenen Manieren äußern, wenn sie nicht, in einer Art von Verzweiflungsparoxysmus, zum andern Extrem überspringt und, in völlig unnatürlicher Ungezwungenheit, tolle Lustigkeit heuchelt. Das eine wie das andere tadeln wir dann als „Affektation“.

Eine alte Gouvernante sagte mir einst, die höchste Stufe der Erziehungskunst sei, ein – natürliches Benehmen bei der Jugend zu erreichen, und dieser Ausspruch hat mir damals viel zu denken gegeben. Ich prüfte darauf hin jene jungen Damen, deren heiter natürliches Plaudern man so reizend fand, deren naiv kindliche Bemerkungen für so entzückend galten, und siehe da, ich kam richtig dahinter, daß der ganze Zauber dieser sogenannten „Natur“ nichts weiter war, als die höchste Vollendung der „Kunst“. Eines jener Mädchen, dessen schelmisches Lächeln, dessen gesellige Anmuth und Liebenswürdigkeit als unerreichbare Muster galten, entpuppte sich gar bald daheim, im unbeobachteten Zustande, als das launischste, unerträglichste Geschöpf, welches Mutter, Schwestern und Dienstleute in gleich schonungsloser Art tyrannisirte und nie eine freundliche Miene oder gar eine Gefälligkeit für einen der Hausgenossen hatte. All ihre bezaubernden Eigenschaften waren nichts als ein Gesellschaftsputz, den sie mit dem andern bunten Flitter daheim wieder ablegte und im Kasten aufbewahrte bis zur nächsten Einladung.

Es scheint also in Wahrheit möglich zu sein, auch diese reizende „Natürlichkeit“ zu erlernen und einzuüben, wie etwa ein Klavierstück, um damit bei passenden Gelegenheiten zu prunken. Seit ich dies weiß, bin ich etwas mißtrauisch geworden jenen „Backfischchen“ gegenüber, die ein gar zu festes unbefangenes Auftreten haben. Nur in den seltensten Fällen wird dieses Wesen der ungekünstelten Natur entspringen, nur sehr wenige junge Mädchen können schon so früh jene Reife des Gefühles und Verstandes besitzen, die ein solches Benehmen bedingt, und gar oft sind die gerühmten „natürlichen“ Mädchen eben nur fein dressirte. Die „unschuldigen“ Blicke, das schüchterne Niederschlagen der Augen, das naive Erschrecken, das bescheidene Schweigen im rechten Moment, das aufmerksam gespannte Anhören von langweiligen Gesprächen, dies Alles ist dann sorgsam studirt, und nicht ein Funke von „Natur“ wagt es, durch die dicke Schminke der Dressur hindurch zu blitzen.

Viel mehr in der eigenthümlichen Natur des Weibes begründet ist jene anscheinende „Geziertheit“ oder „Affektation“, die man in einem gewissen Alter bei so vielen jungen Mädchen auftreten sieht. Sie kommt ganz von selbst, wie Masern oder Keuchhusten, und muß eben so ruhig ausgehalten und abgewartet werden, wie andere Kinderkrankheiten. Bei dem einen Mädchen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 423. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_423.jpg&oldid=- (Version vom 18.3.2024)