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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Wahnsinn und Verbrechen.

Von Fr. Helbig.
(Schluß.)
Der Querulantenwahnsinn. – Moral insanity. – Die Epilepsie. – Der erbliche Wahnsinn. – Die Simulation des Wahnsinns. – Lichte Perioden. – Absurde Ideen. – Der Wahnsinn des Moments.

Unter dem Drucke einer Wahnidee steht auch in vielen Fällen eine gewisse Kategorie von Leuten, welche glauben, daß ihnen Seitens einer Behörde ein Unrecht zugefügt sei, welche einen Proceß ungerecht verloren zu haben glauben u. dergl. „In ihrem Drange,“ so charakterisirt Casper sie treffend, „ihr vermeintliches Recht zu erreichen, vergeuden sie ihr Vermögen, bestürmen die Rechtsinstanzen, studiren Tag und Nacht die Landesgesetze und zerrütten sich in ihrem innern und äußern Leben immer mehr. Ihre zahllosen Schriftstücke zeichnen sich charakteristisch aus durch ihre Weitschweifigkeit, die vielfach unterstrichenen Worte und Sätze, durch zahlreiche Interjektionen und Einrückungen, Citate von Gesetzesstellen, Randbemerkungen, nachträgliche Benutzung des freien Raums des Papiers, damit ja nichts unbeschrieben bleibt.“ Dabei strotzen dieselben von Beleidigungen und Invektiven gegen Beamte und selbst gegen die Majestät des Landesherrn. Das ist es dann, was sie vor das Forum des Strafrichters führt und die Frage ihrer Zurechnungsfähigkeit zur Erörterung kommen läßt. Diese Frage wird in vielen Fällen verneinend ausfallen müssen, da dieser Querulantenwahnsinn, wie man ihn technisch wohl bezeichnet, vielfach in Verfolgungswahn und am letzten Ende in paralytischen Blödsinn ausgeht. So wurde in der vor dem königl. bayerischen Bezirksgerichte in D. im Jahre 1867 verhandelten Proceßsache gegen den Querulanten Vitus D. wegen Majestätsbeleidigung durch das Gutachten des Medicinalkollegiums der Universität München festgestellt, daß Vitus D. an Querulantenwahnsinn leide und in Bezug auf all Das, was in den Bereich desselben falle, als selbstbestimmungsunfähig zu erachten sei. Ist der Wahn einmal tief eingewurzelt, werden zuerkannte und verbüßte Strafen ihn nur verstärken. Das Martyrium der eigenen Ueberzeugung, gegenüber der sich im Unrecht befindenden ganzen Welt, wird sich im Angeklagten nur noch mehr befestigen.

Aus den moralischen Zuständen unserer modernen Gesellschaft heraus haben besonders englische und amerikanische Aerzte eine besondere Art des Irrsinns konstruirt, die sie als moralischen Wahnsinn, moral insanity, bezeichnen, indem sie behaupten, daß die Entartung der moralischen Anschauungen innerhalb unserer Gesellschaft in manchem Menschen das Gefühl von Recht und Unrecht alterirt und theilweise aufgehohen hätte. Die intellektuelle Seite, sagte man, sei dabei nicht gestört; es seien auch keine Wahnvorstellungen vorhanden, aber das Gefühls- und Gemüthsleben sei pathologisch entartet, indem die natürlichen Gefühle eine krankhafte Richtung nahmen und der moralische Sinn in seiner Entwickelung eine Hemmung erlitt. Diese Wahnsinnsart spielte besonders in dem Processe Huttington in New-York vor einigen Jahren eine sensationelle Rolle und fand da auch ihre ärztlichen Vertheidiger. Huttington, ein „ehrenwerthes“ Mitglied der Asser-Gesellschaft, stand unter der Anklage schwerer Urkundenfälschung. Derselbe suchte nun auszuführen, er habe die Fälschung als solche seiner krankhaften moralischen Anschauung nach, nicht für ein Verbrechen gehalten. Die Geschworenen hatten aber schließlich doch eine andere Ansicht von der Sache, und ebensowenig haben die meisten unserer deutschen Aerzte sich mit dieser neuen Species befreunden können, welche zuletzt auch geeignet gewesen wäre, den Massenmörder Thomas der Bestrafung zu entziehen.

Auch die bedauernswerthen Opfer der Epilepsie (Fallsucht) haben insbesondere in der Zeit kurz vor oder während ihrer Anfälle Anspruch auf Prüfung der Zurechnungsfähigkeit ihrer Thaten, denn die Einwirkung dieser Krankheit auf das Selbstbestimmungsvermögen ist eine so starke, daß dasselbe vielfach aufgehoben erscheint, um so mehr, als nach neuerer Annahme der Hauptsitz der furchtbaren Krankheit das Gehirn ist! Nun besteht dabei das Eigenthümliche, daß in vielen Fällen die Epilepsie keine echte, sondern eine geheuchelte ist, indem sie benutzt wird, das Mitleid des Richters, des Gefangenwärters und Anderer zu erwecken. Die Täuschung ist hier oft eine ganz frappante.

Als eine der bedauerlichsten Ursachen des Irrsinns erscheint die Erblichkeit. Richter und Arzt werden sich, wenn ihnen unerklärte Thaten entgegen treten, immer zuerst mit fragen müssen, ob die Vorfahren des Thäters schon einmal dem Wahnsinne ihren Tribut gezollt haben. Dieser hereditäre Wahnsinn tritt nicht immer gleich als solcher hervor, er erscheint zunächst nur als erbliche Anlage. Die „erblich belasteten“ Individuen treiben nach einer ärztlichen Schilderung allerhand Bizarrerien, zeigen bei oft großen intellektuellen Fähigkeiten frühzeitig Excentricitäten in Gedanken, Gewohnheiten und Neigungen. Beim großen Haufen gelten sie oft als Originale, verrückte Genies und halbe Narren. Es bedarf aber zuweilen nur eines geringfügigen Beweggrundes, eines heftig angeregten Affekts, um sie zu Handlungen zu treiben, welche den schlummernden Wahnsinn unverkennbar zu Tage fördern. Nur bei niederen Naturen dokumentirt sich die krankhafte Anlage frühzeitig schon als einen unaustilgbaren Hang zu Lüderlichkeit und Verbrechen.

Ein eklatantes Beispiel lieferte in dieser Beziehung der bekannte Mordproceß des Grafen Chorinsky, welcher der Theilnahme an dem von seiner Geliebten ausgeführten Giftmorde seiner Gattin beschuldigt war. Die hochangesehene Familie des Grafen bemühte sich, diesen der Schmach des Kerkers oder dem Arme des Henkers dadurch zu entziehen, daß sie ihn besonders in Folge erblicher Belastung für wahnsinnig erklärte. Der französische Arzt Morel, der das Gebiet des erblichen Wahnsinns zu seinem Specialstudium gemacht hatte, sagte schon während der Verhandlung voraus, daß Graf Chorinsky, wenn er nicht schon als wahnsinnig gelten könne, doch unfehlbar noch dem Wahnsinne verfallen würde. Diese Voraussetzung traf in der That ein. Der Verbrecher war, weil die ärztlichen Meinungen über seine Zurechnungsfähigkeit getheilt waren, zwar verurtheilt worden, vertauschte aber sehr bald die Zelle des Gefängnisses mit der des Irrenhauses.

Die Erkenntniß der Geisteskrankheit wird für die entscheidenden Faktoren noch wesentlich dadurch erschwert, daß der Wahnsinn, wie bereits bemerkt, von schlauen Verbrechern simulirt, geheuchelt wird, um von der drohenden Strafe loszukommen, und zwar geschieht dies, namentlich in den Formen der Tobsucht und des Blödsinns, oft mit solchem Geschick, daß diese falschen Irren schon die erfahrensten Irrenärzte auf lange Zeit hinaus getäuscht haben. Ja es kommt vielfach der Fall vor, daß wirkliches und geheucheltes Irrsein neben einander hergehen und mit einander abwechseln. Selbst der wirklich Irre gefällt sich oft darin, die von ihm wahrgenommenen Auslassungen der anderen Geisteskranken nachzuahmen. Daß die simulirte Geisteskrankheit aber auch in die wirkliche übergehen kann, beweist das traurige Geschick einer französischem Schauspielerin, dessen die forensischen Handbücher Erwähnung thun. Sie war bei der Darstellung einer Wahnsinnsscene ausgepfiffen worden. Im Aerger darüber begab sie sich zu einem berühmten Irrenärzte und ließ sich von ihm in das Studium der Geisteskrankheiten, besonders jener Form, welche sie in der betreffenden Scene darzustellen hatte, einführen. Sie ging in diesem Studium förmlich auf und eignete sich die Merkmale des Irrseins aufs Treueste an. Dann trat sie in jener Rolle wieder auf. Ihr wahrhaft erschütterndes naturwahres Spiel riß das Publikum zu stürmischem Beifalle hin. Aber der Wahnsinn, den sie so treu kopirt hatte, hielt sie fest; er ließ sie nicht wieder los. Schon am Ausgange ihres Spiels zeigten sich sehr bedenkliche Symptome – und ihr auf die Bühne eilender Lehrer konnte schon an dem Abende feststellen, daß sie dem Irrsinne unheilbar verfallen war.

Ein unter den Aerzten sensationell gewordener Fall einer Simulation ist der des Reiner Stockhausen, über welchen besondere Abhandlungen geschrieben wurden. Dieser dem Trunke ergebene Vagabund beging eine Reihe schwerer Diebstähle unter Umständen, die an seiner Zurechnungsfähigkeit zweifeln ließen. Man untersucht ihn; zwei Aerzte erklären ihn für einen Simulanten, ein dritter für geisteskrank. Hierauf wird er ein Jahr zur Beobachtung in eine Irrenanstalt gesteckt. Der Direktor derselben erklärt, es liege Simulation vor, da keins der bei ihm wahrgenommenen Symptome unter die Hauptformen des Irrsinns gebracht werden könne. In

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 406. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_406.jpg&oldid=- (Version vom 19.3.2024)