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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Kind epischer Darstellung von der Aesthetik in Gnaden aufgenommen worden und hat sich auch in der Gunst des Publikums befestigt.

Die Wahrheit der Thatsachen muß er respektiren, soweit es sich um feststehende Daten, um die großen geschichtlichen Haupt- und Staatsaktionen handelt, und es wird vortheilhafter für ihn sein, wenn er nicht die großen Charaktere zu den eigentlichen Helden der Erzählung macht, sondern eine freierfundene Gestalt in den Vordergrund stellt und jene nur in entscheidenden Momenten auftreten läßt: sonst sind ihm die Hände zu sehr gebunden; bei der breiten Schilderung, welche die Darstellung des Romans verlangt, muß er sonst zu sehr ins Fahrwasser der Geschichte gerathen, welche für das Bild großer Männer viel fertiges Material, viele unwandelbare Züge und selbst eine reiche anekdotische Ausschmückung gegeben hat.

Was man aber von dem geschichtlichen Roman verlangen darf, das ist Treue des Kolorits, nicht blos des äußern, sondern auch des geistigen, und da dasselbe eine gewisse Breite der Ausführung verlangt, so sollten geschichtliche Zeiträume, welche für die Gegenwart kein Interesse, welche keine ihren Bestrebungen verwandte Züge darbieten, gar nicht zum Hintergrunde des Romans gewählt werden. Sonst erhalten wir den gelehrten Roman mit seinen langen archäologischen Kapiteln, und werden in einem Museum spazierengeführt, während wir dem freien Fluge der dichterischen Muse folgen wollten.

Eine Abart des geschichtlichen Romans ist der litteraturgeschichtliche – und er muß nach denselben Grundsätzen beurtheilt werden. Bei der Vorliebe der Deutschen für Litteraturgeschichte hat dieser Roman bei uns große Verbreitung gefunden: schon die Romantiker schrieben ihre Shakespeare- und Camoens-Novellen; etwas später wurden unsere Klassiker selbst zu Helden solcher Erzählungen gemacht; wir erinnern an Otto Müller’s „Bürger“ und an „Schiller’s Heimathjahre“ von Hermann Kurz, zwei sehr beachtenswerthe Werke, während Hermann Klenke und Heribert Rau in ihren zahlreichen romanhaften Biographien die Klassiker für den Bedarf des Leihbibliothekenpublikums einschlachteten, ähnlich wie das Luise Mühlbach mit den Friedrichs, Josephs und Napoleons gethan. Es handelt sich bei diesen Schriften, wenn wir einen Tadel aussprechen, nur um die lässige und zwitterhafte Form. Die Berechtigung, unsere Dichter und Denker in ein romanhaftes Gewand zu kleiden, kann auch ihnen nicht abgesprochen werden. Der Roman von Hermann Kurz, welchem Laube seine „Karlsschüler“ nachgedichtet hat, beweist zur Genüge, daß sich auf diesem Gebiete bei einer richtigen Mischung von Wahrheit und Dichtung schätzenswerthe Werke von litterarischer Bedeutung schaffen lassen.

Dagegen ist aber neuerdings ein fulminanter Protest erhoben worden; er galt einer Erzählung, welche diese Zeitschrift brachte: „Brausejahre“, Bilder aus Weimars Blüthezeit von A. von der Elbe; sie wurde urbi et orbi als ein Verbrechen der beleidigten Majestät unserer klassischen Epoche denuncirt und ein kritischer Strohwisch aufgesteckt, der alle Journale der Welt warnen sollte, diese verbotenen Pfade zu wandeln. Es ist hier nicht der Platz, diese Erzählung vom ästhetischen Standpunkte aus zu beurtheilen; es handelt sich nur um das Princip, ob in litterargeschichtlichen Novellen und Romanen eine Mischung von Wahrheit und Dichtung als gänzlich unzulässig in die Acht zu erklären sei, und ob unsere Dichter und die Personen der gesellschaftlichen Kreise, in denen sie sich bewegten, wie man auf den Südsee-Inseln sagt, „tabu“ seien, sodaß jede Berührung des Unberührbaren verhängnißvoll und verderblich für die Novellisten würde, die sich dieselbe zu schulden kommen ließen.

Natürlich geht dies „Tabu“, diese Heiligsprechung von den Priestern aus – und so ist es auch hier. Fort mit dem profanen Volke aus den Tempeln und von den Altären, wo sie opfern! Ein Friedrich der Große, ein Napoleon darf von den Romanschreibern in freierfundene Abenteuer verstrickt werden; dagegen regt sich kein Widerspruch, aber ein Goethe – das ist ein Attentat auf die Goetheforschung, die mit so vielem, gewiß verdienstlichem Eifer die Thatsachen jener Epoche festzustellen sucht, das ist ein Angriff auf das Monopol derjenigen, welche den Goethe-Kultus als Lebensaufgabe betreiben. Da begiebt es sich, daß an diese Hohenpriester Fragen gestellt werden, ob alles wahr sei, was in jener Erzählung stehe, und mit bedauerlichem Achselzucken müssen sie dann erwidern: vieles darin sei schnöde Erfindung und es sei ein Frevel, mit einem Dunstkreise neuer Mythen das Gestirn zu umgeben, das sie mit ihren kritischen Teleskopen durchforscht hätten.

Gegen jede Ausnahmestellung, gegen jedes Monopol zu protestiren ist das Recht einer gesunden und freisinnigen Aesthetik. Entweder darf überhaupt der geschichtliche Roman nicht Dichtung und Wahrheit vermischen, mag er einen Helden nehmen, welchen er immer sich wählen will – oder wenn er’s darf, so haben ein Goethe und Karl August kein Vorrecht vor den Helden der politischen Geschichte – und was dem einen recht ist, das ist den andern billig. Vor allem aber hegen wir noch begründete Zweifel, ob die Goethe-Forschung selbst eine so vollkommene Klarheit über jene Epoche verbreitet hat, daß die Vertreter derselben ein Recht haben, sich vor jeder andern Auffassung zu bekreuzigen und Bilder, die nicht in ihrem Guckkasten zu finden sind, als Zerrbilder zu bezeichnen. Trotz aller Wäschkörbe voll Wäschzettel, welche überflüssiger Weise angesammelt worden sind, herrscht doch noch über einige gar nicht unwichtige Punkte, die das Leben und Treiben in jener klassischen Epoche betreffen, große Unsicherheit – und die Gelehrten widersprechen sich selbst in einer oft auffallenden Weise. So z. B. was das Verhältniß zwischen Goethe und Frau von Stein betrifft, welches übrigens von A. von der Elbe ganz in der kanonischen Weise nach dem Evangelium Düntzer als ein rein platonisches hingestellt worden ist, während andere Forscher dies als einen Mißgriff bezeichnen müßten und wir selbst mit ihnen der Ansicht sind, daß eine solche Auffassung wenig in Einklang steht mit dem Charakter und den Lebensanschauungen des Dichters und mit den späteren Eifersüchteleien und der Verbitterung der Frau von Stein über sein Verhältniß zur Vulpius. Da sind Berge von Briefen aufgehäuft und herausgegeben worden – aber glauben denn die Herren, daß alles in den Briefen steht, was sie gern wissen möchten? Es läßt sich nicht einmal alles zwischen den Zeilen lesen. Doch sie haben ja das Monopol: von Karl August, von Herzogin Luise, von Fräulein Göchhausen, von Corona Schröter darf sich Niemand ein anderes Bildniß und Gleichniß machen, als dasjenige, das die Fabrikmarke ihrer Goethe-Kritik trägt. Uns fällt dabei immer aus Gutzkow’s „Maya Guru“, seinem tibetanischen Jugendroman, die köstliche Geschichte von den tragikomischen Schicksalen des Besitzers einer Götzenmanufaktur ein, der wegen freigeistiger Abweichung von der Traditiou der göttlichen Physiognomien, besonders was die Proportion zwischen Mund und Nase betrifft, zum Tode verurtheilt werden soll. So sind die Proportionen und Maßstäbe für jedes Gesicht von den Hütern unserer klassischen Epoche gegeben – und wehe dem, der davon abzuweichen wagt!

Mögen sie nach der Wahrheit streben, die ihnen erreichbar ist, soweit es die aufgefundenen Dokumente und die eigenen Brillen zulassen, durch welche mehr oder weniger jeder auch erkannte Wahrheiten ansieht; doch mögen sie die Mischung von Dichtung und Wahrheit in freien Phantasie-Erfindungen auf geschichtlicher Grundlage nicht gleich in den Abgrund der Hölle verdammen, wenn ihre Studienkreise dabei berührt werden, oder mögen sie dann wenigstens so konsequent sein, über alle Dichter historischer Romane als Verfälscher geschichtlicher Wahrheit ohne Ausnahme den Stab zu brechen.


Blätter und Blüthen.

Der Berliner Tattersall. (Mit Illustration S. 373.) Im Jahre 1795 gründete Richard Tattersall in der Hauptstadt des sportfreudigen England ein Etablissement mit Versammlungszimmern für Pferdeliebhaber und einem Hofraume zur Ausstellung von Pferden. Das Unternehmen fand allgemeinen Anklang, bot bald den Mittelpunkt für Kauf und Verkauf von Pferden und Wagen und bildete eine Art Pferdebörse, auf welcher auch allerlei Wetten abgeschlossen und liquidirt wurden. Durch die Nachkommen Richard Tattersall’s wurde das Etablissement bedeutend erweitert und trug für alle Zeiten den Namen seines Gründers. Auch für ein ähnliches deutsches Institut, das in Berlin besteht, wurde diese englische Benennung beibehalten. Viele Leute, denen die Entstehungsgeschichte des Tattersalls unbekannt ist, sprechen und schreiben trotzdem konsequent von einem „Tattersaal“, ohne sich über die Bedeutung des eigenthümlich klingenden Wortes Rechenschaft ablegen zu können.

Aus dem oben Gesagten dürfte Jedermann klar sein, daß in diesem Etablissement der „Saal“ wohl das Nebensächliche ist und Stall und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 383. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_383.jpg&oldid=- (Version vom 18.3.2024)