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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Charakterkopf aus dem Paznaunerthal.

Ziegen, die sie bei sich haben, ihre Lagerstätte zu dem kurzen Schlafe, der ihnen gegönnt ist, schlagen sie in den Heuschobern auf. Wochenlang verweilen die Heuer in den Bergwiesen, nur Samstag Abends gehen sie in ihr heimathliches Dorf, um dem sonntäglichen Gottesdienste beiwohnen zu können.

Ein älterer Mann mit kühner, scharfer Adlernase in dem von Sonne und Wind fast gerötheten Gesicht giebt uns auf unsere Frage um den Weg nach Boden bereitwilligst Auskunft, indem er uns anweist, das „Saßcalunern“ Joch zu überschreiten. Der fremdklingende Name erregt unsere Aufmerksamkeit, und wir werden belehrt, daß hier einst „romantische“ Leute seßhaft waren. Und in der That weisen eine Menge Namen und Ausdrücke, ja selbst die scharfgeschnittenen Züge der Einwohner, besonders der Männer, auf romanische Abstammung hin.

Wir nehmen unsern Weg nun auf das Saßcalunerjoch zu, auf dem sich ein paar äußerst interessante, zerklüftete Felsblöcke erheben, die den Eindruck einer zerfallenen Riesenburg machen, und zwischen deren Trümmern ein tiefer, schwindelerregender Abgrund gähnt. Bald sind auch die ersten Alphütten, die sogenannten „Paznauner Thayas“ erreicht. Wir eilen einer herrlichen Gruppe prachtvoller Zirbelbäume zu, und nun erblicken wir auch zu unserer angenehmen Ueberraschung in geringer Tiefe die einsame Alpe Boden. Von den freundlichen Wirthsleuten herzlich empfangen, lassen wir uns nach so langem Marsche die trefflichen Forellen und Hühner mit Himbeergelée bestens munden und schlafen in den reinlichen Betten mit dem Wunsche ein, es möchte an mehr Orten nach des Tages Mühen ein so prächtiges Alpenwirthshäuslein zu treffen sein. – Von der Alpe Boden gelangt man in zwei Stunden an den Fuß des Fluchthorns, dessen zerklüftetes Gestein unsere Anfangsvignette zeigt, und unter dem sich der Fimbergletscher ausbreitet; hier bietet sich somit Dem, der nicht gewillt ist, gefahrvolle Hochtouren zu unternehmen, die schönste Gelegenheit, mühelos die Gletscherwelt in nächster Nähe betrachten zu können.

Um das Paznaunerthal in seiner ganzen Länge kennen zu lernen, ist es nöthig, wieder nach Ischgl zurückzukehren. Dem Laufe der Trisanna aufwärts folgend kommt man nach Ueberschreiten der ersten Brücke zu dem Weiler Paznaun, von dem das Thal seinen Namen hat, und erreicht in einer Stunde auf sehr angenehmem Wege über Wiesen und schöne Wälder das malerische Matson, das wegen seiner wunderbar schönen Lage besonders erwähnt zu werden verdient. Nach Verlauf einer weiteren Stunde betreten wir das letzte Dorf des Thales, „Galthür“, das, auf grüner Terrasse liegend, das Bild eines anmuthigen Alpendörfchens bietet und das mit dem vielgepriesenen Vent im Oetzthale getrost um den Preis der Schönheit zu ringen vermag.

Galthür bildet einen günstigen Ausgangspunkt für große Gletschertouren, wie auf den Piz Buin und Vermontthale, auf die Jamthalergletscher und die Silvrettagruppe. An zuverlässigen Führern fehlt es hier nicht, und das Gasthaus des klugen und unternehmenden Herrn Mattle gewährt gute Unterkunft. Auf freistehender Höhe ragt die im Jahre 1622 neuerbaute Kirche empor, um die sich die friedlichen Hügel der Todten scharen, und Niemand, der diese geheiligte Stätte betritt, ahnt wohl, welch erbitterter Kampf hier vor ein paar Jahren stattfand, bei dem selbst Grabkreuze ausgerissen wurden, um als Waffen zu dienen. „Hie Preußen,“ „hie Oesterreicher“ erklang der Schlachtruf im Kampfe um liberale oder ultramontane Herrschaft. Unter den „Preußen“ waren die Liberalen, unter den „Oesterreichern“ die Ultramontanen verstanden, an deren Spitze der Kaplan nebst seiner Köchin sich befand. Da sich auch Weiber und Mädchen als streitbare Amazonen auf die Wahlstatt begaben, so kam es, daß so mancher Haarzopf der zornmüthigen Schönen auf dem Schlachtfelde verblieb. Das Endresultat des Gefechtes war, daß der Kaplan versetzt wurde und die ärgsten Heißsporne für ein paar Wochen Zeit bekamen, ihr heißes Blut hinter schattigen Mauern etwas abzukühlen.

Auch im Spaße necken sich die Paznauner gern, indem die Bewohner des oberen Thales denen des unteren und umgekehrt diese den ersteren „eines anhängen“. So wird in Galthür von einem sehr sparsamen „Seeer“, der nicht zu bewegen war, zu Kirchenzwecken etwas beizusteuern, erzählt: Einst mußte er Gevatter stehen, und als der Geistliche bei der Taufceremonie die übliche Frage an ihn stellte: „Was verlangst Du von der Kirche Gottes?“ antwortete er schnell, Konsequenzen befürchtend: „Kan Kreizer, umsüst hob’ ich’s hertraga, umsüst trag’ ich’s wieder ham oh!“ (Keinen Kreuzer, umsonst habe ich es [das Kind] hergetragen, umsonst trage ich es wieder heim auch!)

Bei Virl, eine halbe Stunde hinter Galthür, mündet das kleine Vermontthal ein, das in ziemlicher Eintönigkeit nicht viel des Interessanten bietet, bis man nach dreistündigem Marsche auf schlechtem, steinigem Wege zur Bielerhöhe gelangt, von welcher aus sich die Gletscherwelt dann allerdings in imposanter Größe

Die Felsen von Saßcalun.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 366. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_366.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)