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verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

behüte, nein! Und was willst Du denn von uns, wir siud relativ ganz glückliche Eheleute.“

Trudchen sah ihre Schwester überrascht und fragend aus den großen blauen Augen an. „Relativ glücklich!“ wiederholte sie leise. „Mein Gott, ja, er hat seine Schrullen – darüber kommt man hinweg,“ erklärte die Schwester.

„Nur keine Meinungsverschiedenheiten heute, bitte,“ sagte Frau Baumhagen und nahm das Pincenez von dem stumpfen Näschen; „ich werde übrigens schreiben, dafür bin ich Deine Mutter.“ Sie seufzte. „Aber in diesem Punkte möchte ich Jenny doch Recht geben; Gertrud, Du siehst die Welt mit gar zu idealen Augen an. Wohin so etwas führt – wir haben es Alle gesehen.“ Wieder ein Seufzer. „Ich will Dir nicht zureden, ich habe auch Jenny nicht zugeredet, das wißt Ihr ja Beide. Ich, für meine Person, hätte nichts gegen diesen Herrn von – von –“ sie fand den Namen nicht gleich „einzuwenden.“

Das junge Mädchen lächelte, aber die Augen blickten fast verächtlich. „Seine Adresse ist mit vollster Deutlichkeit in dem Briefe angegeben,“ sagte sie.

„Es eilt doch nicht gar so sehr?“ fuhr die Mutter fort. „Ich habe heut Abend meine Whistpartie; wenn ich nicht pünktlich komme, muß ich Strafe zahlen; überhaupt bin ich nicht zum Schreiben aufgelegt.“ Sie gähnte leise. „Die Abende werden doch schon recht lang jetzt – weißt Du auch, Jenny, daß eine Operettentruppe herkommt?“

Die junge Frau bejahte und fügte hinzu, sie müsse nun Toilette machen. „Gute Nacht!“ rief sie fröhlich schon an der Stubenthür, „wir sehen uns doch wohl heute nicht mehr!“

„Gute Nacht, Mama!“ sagte auch Trudchen.

„Gehst Du zu Jenny hinunter?“ erkundigte sich Frau Baumhagen.

Das Mädchen schüttelte den Kopf.

„Was fängst Du denn an den ganzen Abend?“

„Ich weiß noch nicht, Mama; ich habe allerhand zu thun, vielleicht lese ich auch.“

„So! Nun gute Nacht, mein Kind!“ Sie winkte mit der Hand und Trudchen ging. Sie vertauschte in ihrer Schlafstube das seidene Kleid, das sie noch immer trug, mit einem weichen wollenen Hauskleid, dann kam sie wieder in ihr hübsches Wohnzimmer. Schon war es dämmerig geworden und unten auf der Straße wurden die Laternen angezündet; sie stand im Erker und sah, wie eine Flamme nach der andern aufsprühte und wie die Fenster der Häuser sich erhellten; selbst die Hökerfrau, die sich im Schutz des Rolands angesiedelt, steckte ihr Laternchen an unter dem riesigen dachartigen Leinwandschirm. Trudchen kannte dies Alles so genau; so war es gewesen da draußen, als sie noch ein kleines Mädchen, und so ist es jetzt, – nur hier innen ward es anders, so ganz anders.

Wo waren die Abende, an denen sie neben dem Vater gesessen, wo die traute Behaglichkeit? Mit in den schwarzen Sarg mußte sie sich geborgen haben, denn von jenem entsetzlichen Tage an, wo man den Vater hinausgetragen, blieb es leer und kalt, im Hause und in des Mädchens Herz. Er war so krank gewesen, der Papa, so tiefsinnig; es sei ein Glück, daß es so gekommen, sagten die Leute zu der Wittwe, die im leidenschaftlichen Schmerz förmlich wüthete, aber sie war doch gleich auf Reisen gegangen mit Jenny und den Winter hindurch in Nizza verblieben. Trudchen hatte nicht mit gewollt, durchaus nicht; ihre Augen, die solch Elend geschaut, hätten nicht hinaussehen mögen in Gottes lachende Welt, ihre erschütterten Nerven nicht das bunte Treiben da draußen ertragen. Sie hatte hausgehalten mit einer alten Verwandten; Tante Louischen schlief beiuahe den ganzen Tag – wenn sie nicht aß oder Kaffee trank, und da hatte das junge Herz alle Qualen der Einsamkeit kennen gelernt. Krank war sie gewesen an Körper und Geist, und als Mutter und Schwester zurückkehrten, da lernte sie, daß man auch unter Menschen einsam sein kann; und einsam war sie geblieben bis heute, herzenseinsam und arm an Freuden.

Sie hatte, von Sehnsucht getrieben, immer und immer wieder tapfer versucht, eine Entschuldigung für die Mutter zu finden, sich wenigstens etwas ihrer Lebensanschauung anzupassen; sie hatte sich mitschleifen lassen in den Trubel der Geselligkeit, den die lebenslustige Frau, nach beendeter Trauerzeit, um sich verbreitete; sie hatte versucht, sich einzureden, die Koncerte, Bälle und Alles, was darum und daran hing, machten ihr wirklich Vergnügen, füllten ihr Herz aus; aber ihr Rechtlichkeitsgefühl sträubte sich gegen diese Selbstlüge. Sie begann zu grübeln über die Leerheit, die sie umgab, über dieses und jenes Gespräch, über das ganze Treiben um sie her; und es ward ihr immer unverständlicher. Sie begriff nicht, wie man sich so köstlich amüsiren konnte über Sachen, die ihr kaum beachtenswerth erschienen. Die Kunst, das Leben tändelnd zu durchflattern, von allen seinen Reizen den Schaum zu schlürfen, wie Jenny es that, verstand sie nicht, es waren eben alles Dinge, die sie nicht berührten. Die ausgesuchtesten Toiletten auf den Bällen zu tragen, auf Reisen in den theuersten Hôtels zu wohnen, mit den feinsten Menüs zu excelliren – es lohnte sich doch der Mühe nicht, darüber nachzudenken. Einmal hatte sie gebeten, ob sie nicht wie sonst, als der Papa noch lebte, an den Abenden, die man allein verbrachte, vorlesen dürfe? Sie war, nach erhaltener Erlaubniß, freudestrahlend mit dem „Ekkehard“ herüber gekommen, das letzte Buch, welches der Vater ihr geschenkt. Mit hochrothen Wangen hatte sie gelesen und gelesen, als sie aber unversehens aufschaute, da saß Jenny und betrachtete angelegentlichst die neueste Nummer der Modenzeitung, und Mama schlief. Sie hatte kein Wort gesagt, aber vorgelesen nie wieder.

Ein paar große Thränen rannen ihr plötzlich über die Wangen. Es war wieder eine jener Stunden über sie gekommen, in denen sie wie verzweifelnd die Arme nach einer Seele ausstreckte, die sie verstand, die sie ein bischen, nur ein bischen lieb hatte um ihrer selbst willen. Sie war so mißtrauisch, so unendlich mißtrauisch geworden, daß sie Alles, was Fremde ihr entgegenbrachten an Freundlichkeiten, ihren äußeren Glücksgütern, der Stellung, die ihr Haus in der Gesellschaft einnahm, zuschrieb. Sie war sich völlig bewußt, daß sie schroff und unliebenswürdig sei, geflissentlich bis zur Rücksichtslosigkeit; die Menschen sollten nicht wissen, wie arm sie sich fühlte. Sie brauchten nicht zu ahnen, daß sie die Hände ineinander wand und fragte: „Was soll ich? Wozu lebe ich?“ Sie hatte die Arbeitslust, den Drang zu nützen, vom Vater geerbt – jeder tüchtige Mensch will schaffen, will beglücken und glücklich sein; auf ihr lag das Dasein wie eine Last, es war so ekel, so schal, so erfüllt von kleinlichen Interessen.

Sie trocknete rasch eine Thräne und wandte sich um; die Thür hatte sich geöffnet, und eine alte Dienerin trat ein.

„Sie vergessen wieder das Abendbrot, Fräulein Trudchen,“ begann sie vorwurfsvoll. „Im Speisezimmer ist Alles bereit; ich habe den Thee eingegossen, damit er ein wenig verkühlt, aber nun müssen Sie auch kommen.“

Das junge Mädchen dankte freundlich und folgte. Nach ganz kurzer Zeit kam sie zurück; es schmeckte nicht so allein. Sie zündete die Lampe an und nahm ein Buch und las. Auf der Straße war es allmählich still geworden, von St. Benedikti schlug es Viertelstunde auf Viertelstunde, endlich elf Uhr: unten fuhr ein Wagen vor – Mama kam nach Hause.

Trudchen schloß das Buch, es war Schlafenszeit. Nun ging die Entréethür, jetzt Schritte vorüber an Trudchens Zimmer, nein, doch nicht – man kam herein.

Frau Baumhagen trug noch das schwarze spanische Spitzentuch über dem Kopf; sie wollte ihre Tochter nur fragen, was denn das eigentlich für eine „gelungene Geschichte“ in der Kirche heute Nachmittag gewesen sei? Die Frau Oberprediger habe ihr von einem seltsamen Herrn Gevatter erzählt: der Herr Pastor sei ganz erfüllt davon nach Hause gekommen.

„Jenny blieb aus,“ erklärte das junge Mädchen, „da meldete sich ein fremder Herr.“

„Aber wie entsetzlich zudringlich!“ rief die erregte kleine Frau, „Du hättest zurücktreten müssen, Kind; wer weiß, was es für ein Subjekt ist!“

„Ich kenne ihn nicht, Mama. Aber, wer es auch sei, er hat so menschlich gut gehandelt; er dachte jedenfalls nicht, daß man seine Freundlichkeit anders auffassen konnte.“

„Siehst Du,“ klagte Frau Baumhagen, „so ist es mit Dir! Dergleichen imponirt Dir, Trudchen – wirklich, mir wird angst um Dich! Weißt Du auch, daß der Herr von Löwenberg – nun erinnere ich mich des Namens – entfernt verwandt ist mit dem herzoglichen Hause von A.? Die Frau von S … kennt die ganze Familie, es sollen Alle charmante Menschen sein. Aber ich will Dir nicht zureden, ich sage Dir dies nur so beiläufig.

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