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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Oberinnthal beherrschenden Tschürgant erreicht und sehen gegenüber das freundliche Silz liegen. Hätten wir uns nicht ein weiteres Ziel gesteckt, so möchten wir hier rasten und für einige Zeit Aufenthalt nehmen. Mit seinen nahen Wäldern und der bequemen Gelegenheit zu hübschen Ausflügen mit der Bahn und zu Fuß ist Silz in der That ein empfehlenswerther Standort für Besucher des Oberinnthals und was Unterkunft und Atzung betrifft, so ist überdies in dem hübschen, neueingerichteten Gasthaus „Zum Löwen“ bestens hierfür gesorgt. Dasselbe gilt von der „Post“ in Imst, einem der besten und besuchtesten Gasthäuser Tirols, dessen Besitzer, der wackere Postmeister Stubmair, ob seines Liberalismus von den Ultramontanen vielfach angefeindet, trotzdem sein schönes Anwesen durch Fleiß und Umsicht in seinen jetzigen blühenden Stand gebracht hat. Wünschen wir dem tapferen Kämpfer ferneres Gedeihen und eilen wir weiter, unserem Ziele entgegen! – Von schroffen, unzugänglich scheinenden Höhen schauen die geborstenen, verwitterten Mauern der von Friedrich mit der leeren Tasche zerstörten Burgen[1] auf das hastige Treiben der Neuzeit. Am Fuße des Felsens, auf dem sich einst des mächtigen und gefürchteten Starkenbergers trotzige Burg erhob, hat sich die Lokomotive ihren Weg gebahnt – nimmer überfallen des beutegierigen Zwingherrn Reisige den friedlichen Wanderer. Menschenwerk und Menschensatzungen sind hinweggespült vom Strome der Zeit, aber in ewiger, unvergänglicher Schönheit ragen die Berge empor, aus deren Mitte der silberweiße Scheitel des „Blankahorn“ hervorleuchtet.

Wir lassen Landeck, das von Geschichte und Sage mit reichem Kranze umwundene, links liegen und fahren bis zur nächsten Station, Pians, der letzten vor dem Eintritt ins Paznaun. Wer hier den hochgelegenen Bahnhof verläßt, zur Thalsohle hinabsteigt und die Sannabrücke überschreitet, erreicht nach halbstündiger Wanderung die Poststraße aufwärts den sogenannten „Steg“, von welchem links der Weg ins Paznaun abzweigt. Gegenüber, auf hohem, steilem Felsen, erhebt sich die malerische Ruine des Schlosses Wiesberg, zu deren Füßen sich das kühnste Bauwerk der Arlbergbahn, der 86 Meter hohe Trisannaviadukt[2] mit der eisernen Brücke über die ganze Breite des Paznaunerthales erstreckt. Mit ehrfurchtsvollem Staunen betrachten wir dieses Riesenwerk menschlichen Geistes, welcher die rohen Naturkräfte in Fesseln schlägt und sie zwingt, ihm dienstbar zu sein.

Giggl.

Wer die kleine Mühe nicht scheut und nach Wiesberg hinansteigt, dem bietet sich ein Bild von überraschender Schönheit und Großartigkeit. In grauenerregender Tiefe braust die Trisanna und vereinigt ihre Wellen mit der aus dem Stanzerthale kommenden Rosanna, um friedlich mit derselben als Sanna ihre Wasser dem Inn zuzutragen. Vor uns schweift der Blick über ein weites Thal, dessen liebliche Dörfer zerstreut auf den grünen, sonnigen Matten liegen, unterbrochen von dunklen Tannenwäldern, die sich hoch bis zum Gipfel der Berge erstrecken, hier und da überragt von einem schneebedeckten Scheitel: am linken Ufer der Trisanna die mächtige Pezinaspitze, an deren Ausläufer die altersbraunen Hütten des Weilers Falkeneyr gleich Schwalbennestern kleben, die Scheidewand zwischen dem Paznauner- und Stanzerthale bildend; ihr gegenüber auf schwindelnder Höhe mitten im Grün gebettet das anmuthige Dörfchen Giggl, und, den Fluß aufwärts verfolgend, der düstere, schluchtartige Eingang ins Paznaun. Wahrlich ein Bild, geschaffen, die Seele rein zu baden von dem Staube des Alltagslebens!

Weiter trägt uns der Fuß. Tosend, schäumend, der Rede Laut mächtig übertönend, braust die Trisanna uns entgegen. Eingeengt von hohen Felsenwänden kämpft sie sich, weißen Gischt hoch aufspritzend, zwischen gewaltigen Felsblöcken hindurch, kühn alle Hindernisse bezwingend, die ihr den Weg verlegen wollen. Mögen auch ihre Wogen zerschellen am harten Gestein, sie bahnt sich kraftvoll ihren Weg, nichts kann sie zurückhalten, ihre Wasser dem Meere zuzutragen, nach dem sie strebt – so recht das Bild eines kühnen Mannes, dessen Kraft im Kampfe mit Widerwärtigkeiten nur gestählt, nicht gebrochen wird, und der ungebeugten Muthes das hohe Ziel, das seinem Geiste vorschwebt, zu erreichen trachtet

Immer mehr verengt sich das Thal. Zaghaft windet sich das schmale Sträßchen über steilabfallendem Ufer neben senkrechten, oft überhängenden Felswänden vorbei, deren zerbröckelndes Schiefergestein den Weg besonders im Frühling durch das Schmelzen des Schnees, oder bei starken Hochgewittern gefährlich macht, was auch die hier aufgestellten „Marterln“ bezeugen.

Endlich haben wir das gefürchtete „G’fäll“ hinter uns, das Thal wird allmählich breiter, und aus dem Schatten des Waldes tretend, erblicken wir vor uns am rechten Ufer der Trisanna das erste Dorf des Thales „See“. Sei gegrüßt du trauter Erdenwinkel, der mir so freundlich lacht! Wie wohl ist mir stets unter den gastlichen Dächern deiner schmucken Holzhäuschen geworden, wenn ich in den getäfelten, traulichen Stuben den ernsten oder heiteren Gesprächen deiner biederen Bewohner lauschte! Wie angenehm berührt die freundliche Gefälligkeit, mit der das schlichte Völkchen dem Fremden entgegenkommt, der ihm nicht, wie so oft anderwärts, als Ausbeutungsobjekt dient! Gerne gesellt sich ein altes Bäuerlein oder ein Weiblein mit schwerem Rückkorb, während des Gehens noch an einem dicken Wollstrumpf strickend, zu uns, auf Fragen freundlich Auskunft gebend. Unaufgefordert zeigen sie das Geburtshaus ihres Landsmannes Mathias Schmidt,[3] des „Chrischtes-Maler“, wie er im Volksmunde heißt, auf den nun auch die Paznauner anfangen stolz zu werden, obgleich er, wie ein biederer Alter meinte, „in der Religion der mindeste sei von seinen Brüdern.“ Zum besseren Verständnisse des Ausdrucks „Chrischtes-Maler“ sei hier bemerkt, daß dieser nicht Bezug hat auf „Christus-Maler“, worauf man vielleicht durch die frühere Kunstrichtung des Meisters als Heiligenmaler geführt werden könnte; sondern sein Großvater hieß „Christian“, und dessen Kinder und Enkel werden nach ihm die „Chrischtes-Buben“ benannt. Auf Seite 348 führt uns der Künstler das bescheidene Häuschen, welches früher seinem Vater gehörte, im Bilde vor.

Was im Paznaun so angenehm berührt, das ist der Sinn für Ordnung und Reinlichkeit, der sich überall bemerkbar macht. Ist das Thal auch nicht wohlhabend, so sieht man doch nirgends den Schmutz und die ruinengleichen Wohnungen, die besonders im Vinggau den traurigen Eindruck des Verfalles und des Elendes machen; ebenso wenig trifft man Bettler oder bettelnde Kinder.

Reizend nehmen sich in dem üppigen Grün von Wiese und Wald die von den Einflüssen der Witterung gebräunten Häuser, die oft noch zierlich angeschindelt und bemalt sind, mit ihrem reichen Blumenschmuck vor den Fenstern aus. Und wenn hinter denselben das jugendfrische Gesicht einer hübschen Paznaunerin erscheint, so ist das gewiß kein Grund, den Blick schneller abzuwenden.

Ueberall macht sich das Bestreben geltend, den heimathlichen Herd in gutem Zustande zu erhalten und nach Kräften zu verschönern. Aber auch ihrer Todten vergessen die Paznauner nicht und schmücken die Gräber mit Blumen, so dem Kirchhofe mit seinen einfachen Kreuzen ein freundliches Gepräge verleihend. Wie poesievoll muthet uns der schöne Brauch an, daß nicht bezahlte, in ihrem traurigen Dienste stumpf gewordene Todtengräber, sondern Freundeshände

  1. Näheres über diese Kämpfe findet sich in Hermann Schmid’s fesselndem Roman: „Friedel und Oswald“.
  2. Siehe „Gartenlaube“ 1884, Nr. 33.
  3. Portrait und Biographie von Mathias Schmid finden unsere Leser in der „Gartenlaube“, 1884, Nr. 37.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 346. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_346.jpg&oldid=- (Version vom 26.3.2024)