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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Urtheils geradezu erdrückten. Darum erschien die Vergangenheit schon im verschönernden Lichte der Ferne. Alle die namenlosen Leiden, welche zur Zeit des Ancien Régime der Despotismus über das französische Volk gebracht hatte, galten jetzt, auf der Schwelle zum 19. Jahrhundert, für nichts, verglichen mit den in frischester Erinnerung stehenden Nöthen, womit die terroristische Blutraserei und die alle socialen Bande lösende Anarchie Frankreich geschlagen. Nicht die selbstlosen Idealisten und ehrlichen Enthusiasten, welche die Revolution begonnen hatten, lebten im Gedächtnisse der Franzosen vom Jahre 1800, sondern nur die hirnlosen Phantasten, welche die Bewegung fortgesetzt und überspannt, sowie die steinherzigen Fanatiker, welche dieselbe besudelt, und die selbstsüchtigen Schurken, welche sie zu Grunde gerichtet hatten.

Die Erkenntniß des Guten und Großen, was die Revolution angeregt, vollbracht und geschaffen, ging erst späteren Geschlechtern auf. Beim Eintritt in das neue Jahrhundert waren aber die Franzosen mit verschwindend wenigen Ausnahmen leidenschaftlich widerrevolutionär gestimmt und sie blickten nur mit den Gefühlen der Erbitterung, des Abscheu’s und der Rachgier auf die Jahre zurück, welche sie unter allen den Schrecknissen, Gefahren und Mühsalen, die ein wüstes Pöbelregiment, eine räuberische und mörderische Sansculotterie mit sich gebracht, hatten durchleiden müssen. Es stand ihnen ja in schmerzlicher Erinnerung, was das verfälschte Evangelium von der „liberté, égalité et fraternité“, in die Wirklichkeit übersetzt, zu bedeuten hätte. Sie wußten jetzt oder glaubten wenigstens zu wissen, daß dieses Symbolum nur eine Maske für leichtfertige Abstraktoren, betrogene Betrüger und herzlose Bösewichte gewesen sei. Auch an dem seit einem Jahrzehnt unaufhörlich schwirrenden parlamentarischen Schwatz hatten die Franzosen schließlich sich verekelt. Die ganze Nation war nachgerade phrasenmüde geworden oder wollte wenigstens, daß die Phrasendrehorgel wieder einmal auf eine andere Tonart gestimmt würde. Vor allem wollten die Leute Ruhe haben, Ruhe, Ruhe, Ruhe um jeden Preis! Ja, sie lechzten nach Ruhe und Ordnung, auf daß sie wieder in Sicherheit den Pflug führen, Gewerbe und Handel treiben, essen, trinken, heiraten, sich amüsiren, schlafen, in ihren Betten sterben und schließlich anständig begraben werden könnten. An den Säbel Bonaparte’s glaubten sie als an einen allmächtigen Zauberstab, welcher ihnen „Brot und Spiele“ schuf und zudem als ein wundersamer Schwertfiedelbogen sich auswies, der dem gallischen Größewahn zum hochwillkommenen Gloiretanz aufspielte.

Daß dieser Säbel eigentlich ein cäsarisches Skepter, das war gleich nach dem 18. Brumaire (9. November) von 1799 für alle denkenden Franzosen eine ausgemachte Sache. „Wir haben einen Herrn, und zwar einen Herrn, der alles weiß, will und wagt“ – sagte sauersüß der Verfassungenfabrikant Sieyès, als er vom ersten Rathschlag der drei Konsuln herauskam, allwo Bonaparte ohne Umstände den Vorsitz genommen und diktatorisch gesprochen hatte. Schon an jenem Tage wurde dem neuen Staatsbau der Stämpel einer absoluten Despotie aufgedrückt. „Ich bin nicht gemacht zu einem konstitutionellen König-Mastschwein à la König von England,“ sagte wachtstüblich-drastisch der neue Gebieter Frankreichs. Die verfassungsstaatlichen Ornamente, womit die Konsularverfassung herausgeputzt wurde – (Gesetzgebender Körper, Senat, Tribunal) – erwiesen sofort ihre kläglich-gipserne Natur und es war nur ein Hohn, so eines Tiberius würdig gewesen wäre, wenn der Erste Konsul solche Statisten wie Roger-Ducos und Sieyès, dann Lebrun und Cambacérès als „Mitkonsuln“ eine Weile um sich duldete und allergnädigst gestattete, daß sein Frankreich noch etliche Jahre lang amtlich eine Republik hieße.

Auf die Walstätten der italischen Feldzüge von 1796–97 hatte Bonaparte mit der Spitze seines Siegerdegens das falsche Testament der Revolution geschrieben, kraft dessen er sich als ihren „legitimen Erben“ Frankreich auflog. Denn an diesem Menschen war alles Lüge, ausgenommen sein Genie und seine Selbstsucht. Diese überragte jenes noch weit. Denn alles zusammengehalten, konnte der Mann, wenigstens innerhalb der Zeit seines aufsteigenden Sterns, den Menschen nur darum so riesengroß erscheinen, weil seine Gegner so zwerghaft klein waren. Es erforderte ja fürwahr keine übermenschliche Kraft, Kunst und Mühe, unter lauter Liliputanern sich als ein Gulliver aufzuspielen. Man hat es bekanntlich dem Göthe verübelt, daß er vor dem Bonaparte so gewaltigen Respekt gehegt. Aber, du lieber Gott, wenn der kosmopolitische Dichter aus dem Schneckenhause seiner krähwinkeligen Ministerschaft heraus mit ansah, wie der französische Machthaber mit dieser armsäligen Gesellschaft von Fürsten, Generalen und Ministern umsprang, die er so zu sagen im Handumdrehen aus Gegnern zu Vasallen und Dienern machte, da mußte er doch wohl vom Bonaparte denken wie Shakspeare’s Cassius vom Cäsar: –

„Fürwahr, er schreitet durch die enge Welt
Wie ein Koloß daher, derweil die Zwerge
Ihm zwischen den Gigantenbeinen wuseln.“

Als einen Haupthebel seines staunenswerthen Glückes handhabte der „Erbe der Revolution“ seine gränzenlose Menschenverachtung. Er wußte die Leute bei ihren Schwächen, ihren schlechten Instinkten und gemeinen Leidenschaften zu fassen und darum hatte er sie und war er ihres Gehorsams und ihrer Dienste sicher. Denn nur in selten wiederkehrenden und immer schnell welkenden Frühlingen der sogenannten Weltgeschichte ist es von Wirkung und Erfolg, an die edleren Triebe der Menschen zu appelliren. Der idealischc Aufschwung ist dauerlos, das realistische Bedürfniß dauerhaft. Die Begeisterung ist eine hochauflodernde, aber zumeist rasch sich verzehrende Flamme, die Freude an einem sorglos-genüsslichen Dasein eine langhin glostende Kohle. Auf das Gemeine demnach, woraus unserem großen Propheten des Idealismus zufolge „der Mensch gemacht ist“, muß seine Berechnungen bauen, wer die Völker beherrschen will. Seit Oktavian Augustus hatte das kein Despot mehr so gut gewußt und so keck bethätigt, wie Bonaparte es wußte und bethätigte. Und wie er die Menschen allgemein verachtete, so die Franzosen ganz besonders. Dieser Verachtung gab er gelegentlich schroff-grobianischen Ausdruck. So schon an jenem Junitag von 1797, allwo er mit Miot und Melzi im Parke von Montebello spazierenging und sich über die „eine und untheilbare Republik“ Frankreich lustigmachte. „Das ist nur eine Chimäre, für welche die Franzosen augenblicklich schwärmen, die aber so schnell vorübergehen wird wie andere Chimären. Gloire brauchen die Franzosen, Kitzelungen ihrer Eitelkeit; aber Freiheit? Bah, davon verstehen sie nichts. Kinderklappern muß man ihnen geben, das genügt. Sie werden sich damit die Zeit vertreiben und sich leiten lassen, falls man ihnen nur geschickt das Ziel verbirgt, welchem man sie zuführt“ – (Miot, Mem. I, 163–64).

So war es. Der Menschenverächter hatte richtig vorhergesehen. Mit wahrhaft asiatischer Sklavenhaftigkeit stürzten sich die Franzosen, die ihnen in die Hände gedrückten Gloire-Kinderklappern schüttelnd, in die Knechtschaft, welche ihnen ihr Vergewaltiger vom 18. Brumaire aufthat. Das Wort „Gesellschaftretter“ war dazumal noch nicht erfunden. Es kam erst ein Halbjahrhundert später auf, als der vorgebliche Neffe des angeblichen Onkels seinen 18. Banditen-Brumaire verübte, den 2. December von 1851. Im Jahre 1800 sprach man dafür von einem „Wiederhersteller (restituteur) der Gesellschaft“, als welchen, wie auch als „Wiederaufrichter der Altäre“, den Ersten Konsul einer jener Glattschwätzer anschmeichelte, welche jedes gelungene weltgeschichtliche Verbrechen lobpsallirend beflöten und beharfen, Monsieur de Fontanes, ein gelungener Typus jenes knechtschaffenen Gelehrten- und Literatenthums, das allzeit und überall um die Gunst des Erfolges und der Macht wettkroch, wettkriecht und wettkriechen wird.

Mit alledem soll nicht bestritten werden, daß Frankreich, das Frankreich von 1800, eines Herrn und Meisters dringend bedurfte, der mit einem Willen von Erz und mit einer Hand von Stahl in dem chaotischen Trümmerhaufen, zu welchem die liebe „Freiheit, Gleichheit und Bruderschaft“ das Land gemacht hatte, wieder Ordnung schuf. Ursprünglichkeit der Anschauung, eigene und neue Gedanken brauchte der „Wiederhersteller der Gesellschaft“ nicht zu haben. Ideen und Tendenzen lieferte ihm die gewaltsam beerbte Revolution genug. Er eignete sich davon an, was ihm in den Kram seines Despotismus zu passen schien, und wo sie sich nicht in denselben hineinpassen lassen wollten, verfälschte er sie unbedenklich oder verkehrte sie geradezu in ihr Gegentheil. Das Reich der Schönheit war und blieb ihm verschlossen. Für Poesie nahm er die rhetorische Phrase. Erziehung, Wissenschaft und Unterricht waren für ihn nur soweit vorhanden und berechtigt, als sie ihm anstellige Ingenieure, tüchtige Officiere und brauchbare Beamte lieferten. Alles ideale Streben verfolgte er mit unerbittlichem Haß.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 327. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_327.jpg&oldid=- (Version vom 10.3.2023)