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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

und Lassen der „alten Jungfer“ mäkelte, als sei sie ihr untergeben. Gleich in der ersten Stunde erfuhr Margarete von dem Jammer im Packhause. Tante Sophie und Bärbe beriethen in der Küche, wie sie wohl einige Erfrischungen für die Kranke unbemerkt an den alten Lenz gelangen lassen könnten.

„Ich trage sie hinüber,“ sagte Margarete.

Bärbe schlug die Hände über dem Kopfe zusammen. Um Gottes willen nicht – das gäbe Mord und Todtschlag! bat und versicherte sie. Der junge Herr lauere an allen Hinterfenstern; die Leute im Packhause seien ihm nun einmal ein Dorn im Auge; er verachte sie noch viel mehr als der selige Herr Kommerzienrath. Ihr, dem alten Dienstboten, habe er gestern Abend den Kopf gewaschen und den Text gelesen, nach Noten, blos weil sie mit der Aufwärterin gesprochen; und wenn nun gar die eigene Schwester sich „so gemein mache“ – nein, den Mordspektakel wolle sie nicht erleben! –

Margarete ließ sich nicht beirren. Sie nahm schweigend das Körbchen mit den Geléebüchsen und ging in die Hofstube. Dort hüllte sie sich in einen weiten, weißen Burnuß von flockigem Wollstoff und trat ihren Gang an.

Aber sie traf es schlecht. In dem Augenblicke, wo sie die Stufen nach dem Hausflur hinunterschritt, kam die Großmama im eleganten, pelzbesetzten Sammetmantel die große Treppe herab. Sie war offenbar im Begriffe, einen Besuch in der Stadt zu machen.

„Was, schneeweiß inmitten der tiefsten Trauer, Gretchen?“ rief sie. „Du wirst Dich doch hoffentlich nicht so in der Stadt sehen lassen?“

„Nein. Ich gehe ins Packhaus,“ sagte Margarete fest, warf aber doch einen scheuen Blick nach dem Komptoir, wo das Fenster klirrte.

„Ins Packhaus?“ wiederholte die Frau Amtsräthin und trippelte doppelt geschwind die letzten Stufen herab. „Da muß ich denn doch erst ein Wörtchen mit Dir reden.“

„Ich auch!“ rief Reinhold herüber und schlug das Fenster wieder zu. Gleich darauf trat er in den Hausflur.

„Gehen wir in die Wohnstube!“ sagte die Großmama. Sie warf ihren Schleier zurück und ging voran, und Margarete mußte wohl oder übel folgen, denn Reinhold schritt dicht hinter ihr wie ein eskortirender Gendarm.


23.

Kaum in das Zimmer eingetreten, griff er ungenirt nach Margaretens Mantel und schob ihn von dem Körbchen an ihrem Arme weg. „Himbeergelée, Aprikosengelée“ – las er von den Etiketten der Glasbüchsen ab – „lauter gute Sachen aus unserem Keller. … Und die soll der Mosje Kurrendeschüler drüben essen, Grete?“

„Der nicht!“ sagte Margarete ruhig. „Du wirst wohl wissen, daß Frau Lenz schwerkrank ist, daß sie einen Schlaganfall gehabt hat.“

„Nein, das weiß ich nicht. Mir kommen solche Dinge nicht zu Ohren, weil ich nie mit unseren Leuten klatsche. Ich halte es genau wie der Papa, der nie darnach gefragt hat, ob die Leute im Packhause leben oder sterben.“

„Und das ist die richtige Art,“ bestätigte die Großmama. „Strenge Zurückhaltung muß der Fabrikherr beobachten – wo käme er sonst hin, seinen Hunderten von Arbeitern gegenüber! – Aber sage mir nur ums Himmelswillen, Grete, was Dir einfällt, am helllichten Tage den Theatermantel da umzuhängen?“ Ihr Blick glitt mit scharfer Mißbilligung über die weiße Umhüllung.

„Ich wollte nicht so unheimlich dunkel an das Bett der Kranken treten –“

„Was? Um dieser Frau willen unterbrichst Du die Trauer für Deinen Vater?“ rief die alte Dame erbittert.

„Er wird es mir verzeihen –“

„Der Papa?“ lachte Reinhold kurz und hart auf. „Sprich doch nicht Dinge, an die Du selbst nicht glaubst, Grete! Damals, wo Du auch, vor unser Aller Augen, die barmherzige Schwester im Packhause spielen wolltest, da hat er Dir streng ein für allemal den Besuch verboten, ‚weil ein solches Hinüber und Herüber nie Brauch im Hause gewesen sei‘. Und daß es bei seinem Wunsch und Willen bleibt, dafür werde ich sorgen. … Ist es nicht schon an und für sich eine unverzeihliche Taktlosigkeit von Dir, zu dem Menschen zu gehen, den wir wegen notorischer Faulheit entlassen mußten?“

„Der Mann ist halb erblindet –“

„So, weißt Du das auch schon? Nun ja, er sucht sich damit zu entschuldigen, aber es ist nicht so schlimm. Uebrigens ist er bei Weitem nicht lange genug im Geschäft, als daß wir – selbst diese fingirte Erblindung angenommen – verpflichtet wären, uns um ihn und seine Familie zu kümmern. Frage den Buchhalter, der wird Dir sagen, daß ich ganz korrekt handle! – Lege nur Deinen Theatermantel ab! Du wirst einsehen, daß Du Dich nachgerade lächerlich machst mit Deinen unverlangten Samariterdiensten!“

„Nein, Reinhold, das kann ich nicht einsehen,“ entgegnete sie sanft, aber fest; „so wenig wie ich glaube, auch hart und unbarmherzig sein zu müssen, weil Du es bist. Ich widerspreche Dir ungern, weil ich weiß, daß Dich jeder Widerspruch aufregt; aber bei dem Wunsche, Dir jeden Aerger zu ersparen, darf ich nicht andere Pflichten verletzen.“

„Dummheit, Grete! Was geht Dich die Malersfrau an?“

„Sie hat Anspruch auf Hilfe und Beistand ihrer Mitmenschen wie jeder andere Kranke auch, und deßhalb sei gut, Reinhold, und hindere mich nicht, das zu thun, was ich für gut und recht halte!“

„Und wenn ich Dir es trotzdem verbiete?“

„Verbieten?“ wiederholte sie erregt. „Dazu hast Du nicht das Recht, Reinhold!“

Er fuhr auf sie hinein, und seine bläuliche Gesichtsfarbe verdunkelte sich unheimlich.

Die Frau Amtsräthin ergriff beschwichtigend seine Hand. „Wie magst Du ihm nur so schroff entgegentreten, Grete!“ zürnte sie. „Allerdings steht ihm bereits ein gewisses Recht zu. In Kurzem wird er unumschränkter Herr hier sein; denn soviel wirst Du doch wissen, daß mit der Firma das alte Erbhaus der Lamprechts an den einzigen männlichen Träger des Namens zu fallen hat –“

„Der Tochter wird dann einfach ihr Antheil hinausgezahlt, und sie hat auf dem Grund und Boden nichts mehr zu sagen und zu suchen, und wenn es zehnmal ihr Geburtshaus ist!“ fiel Reinhold mit seiner hämischen, knabenhaften Stimme so hastig ein, als habe er schon längst auf die Gelegenheit gelauert, der Schwester diese Eröffnung zu machen.

„Ich weiß das, Reinhold!“ sagte sie traurig, mit umflortem Blicke, und der gramvolle Zug um ihren Mund vertiefte sich. „Ich weiß, daß ich mit dem Papa auch das alte, liebe Heim verloren habe. Aber noch bist Du nicht der Herr hier, der mich ausweisen darf, wenn ich mich nicht in Allem widerspruchslos unterwerfe –“

„Und deßhalb wirst Du für die paar Wochen auch noch der Dickkopf bleiben, der Du immer gewesen bist, und à tout prix ins Packhaus gehen, gelt, Grete?“ unterbrach Reinhold sie mit boshaften Augen. Er schob in fingirtem Gleichmuthe nach gewohnter Art die Hände in die Taschen, obwohl er vor Aerger bebte. „Nun meinetwegen,“ fügte er achselzuckend hinzu, „wenn Du denn durchaus nicht auf mich hören willst, so soll Dir Onkel Herbert den Kopf zurechtsetzen!“

„Den lasse aus dem Spiele, Reinhold,“ wehrte die Großmama lebhaft ab; „der wird sich schwerlich hineinmischen! Hat er es doch auch entschieden abgelehnt, Grete’s Vormund zu werden – nun, was siehst Du mich denn so sonderbar erschrocken an, Grete? Mein Gott, was für Augen! … Du wunderst Dich, daß ein Mann wie er sich hütet, einen Mädchenkopf in Zucht zu nehmen, der so voll Eigenwillen steckt wie der Deine? Nun, mein Kind, wer Dich kennt, wird schwerlich in eine solche Beziehung zu Dir treten – denke nur an Dein unverzeihliches Verhalten in Bezug auf die Partie, die wir Alle so sehr für Dich wünschen! Doch das gehört nicht hierher! Ich habe Eile; mein Krankenbesuch bei der Geheimräthin Sommer fällt sonst in unschickliche Zeit, und deßhalb will ich Dir kurz sagen, daß Du Dir selbst einen Schlag ins Gesicht versetzest, wenn Du zu den Leuten ins Packhaus gehst. … In der allernächsten Zeit werden Dir Dinge zu Ohren kommen, haarsträubende Dinge, die Dich möglicher Weise ein schönes Stück Geld kosten können. Willst

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 274. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_274.jpg&oldid=- (Version vom 23.3.2024)