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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Prätendenten werden freilich behaupten können, gerade das spreche für ihre Glaubwürdigkeit; denn wenn es sich um eine Erfindung handle, so hätte es sich Naundorff bequemer machen können.

Ueber die Mißhandlungen, welche der Dauphin von dem Schuster Simon zu ertragen hatte, geht er sehr rasch fort. Seine eigenen geheimnißvollen Erlebnisse, die sich bisher der Kunde der Welt entzogen hatten, beginnen mit den Bemühungen seiner Freunde, ihn der Gewalt der Kommune zu entziehen und die Flucht aus seinem Gefängniß vorzubereiten. Wer diese Freunde waren, welche Einfluß genug besaßen, um zu ihm Zutritt zu erhalten, und trotz der strengen Bewachung und Beaufsichtigung sich unbemerkt seiner zu bemächtigen vermochten: das erwähnt er nicht; wir hören von verkleideten weiblichen Schildwachen, von Arbeitern, welche im Dienste der Royalisten waren, doch wir vermissen einen genauen Bericht, der uns begreiflich macht, wie alle diese Vorgänge unter den Augen der Municipalwache möglich waren. Prinz Ludwig kränkelte damals schon in Folge der schlechten Behandlung und des ungesunden Aufenthaltes; er war nicht mehr in den Händen Simon’s und seiner Frau, sondern wohnte und schlief allein in dem Zimmer, welches früher Cléry, des Königs treuer Diener, innegehabt. Hier gaben nun die Freunde des Prinzen ihm Opium; halb wachend, halb schlafend sah er, wie er aus dem Bette genommen, in einen Korb gelegt wurde, der darunter gestanden und aus dem man ein Gliedermännchen nahm, das man statt seiner ins Bett legte; er selbst verlor dann die Besinnung, und als er wieder zu sich kam, befand er sich in einem ihm ganz unbekannten Raume, es war dies das vierte Stockwerk des Thurms, wo man ihn unter allerlei altem Gerümpel versteckt hatte; hier mußte er nun Wochen lang bleiben, ohne sich zu rühren, seine Freunde brachten ihm Speise und Trank.

Da es zunächst unmöglich schien, aus dem Thurm herauszukommen, weil jeder, der vorüberging, und alles, was man herein- und hinaustrug, auf das Genaueste von der Municipalgarde untersucht wurde, so glaubte man zunächst den Prinzen im Thurm selbst verstecken zu müssen. Inzwischen war entdeckt worden, daß der Prinz verschwunden und ein Gliedermännchen an seine Stelle gebracht worden sei: man vertauschte dasselbe mit einem stummen Kinde, weil man die Flucht des Prinzen geheim halten wollte. Das Kind sollte langsam vergiftet werden; um den Schein zu wahren, rief man, als es erkrankt war, den Arzt Dessault dazu. Dieser aber erkannte die Vergiftung, ließ durch seinen Freund den Apotheker Choppart ein Gegengift bereiten und erklärte ihm übrigens, daß das Kind nicht Ludwig’s XVI. Sohn sei, den er gekannt habe. An die Stelle des stummen Kindes, das den Intriguanten nicht den Gefallen that, zu sterben, brachte man aus dem Hôtel Dieu ein anderes Kind, welches an der englischen Krankheit litt; Dessault und Choppart starben bald darauf an Gift. Das kranke Kind aus dem Hospital erlag seinem Leiden; damit war der Zeitpunkt gekommen für die Freunde des Dauphin, energisch zu handeln und ihn aus dem Temple herauszuretten. Man nahm das verstorbene Kind aus dem Sarge, legte den Prinzen statt dessen hinein, versteckte das todte Kind im vierten Stockwerke, dort wo der Dauphin bisher versteckt gewesen, und als der Wagen kam, den Sarg auf den Kirchhof zu schaffen, lud man statt des rhachitischen Spitalknaben die Hoffnung der Monarchie auf denselben. Es verstand sich von selbst, daß eine neue Eskamotage nöthig war, damit der Prinz nicht lebend begraben werde. Unterwegs wurde er in den Kasten im Fond des Wagens gebracht und der Sarg mit Makulatur angefüllt, die bisher in diesem Kasten sich befand. Im Kirchhofe Saint Marguerite wurde dieser Sarg begraben.

So war der Prinz aus dem Gefängniß entkommen, meist in bewußtlosem Zustande, denn man hatte ihm Opium gegeben. Er weiß auch nicht genau, was in nächster Zeit mit ihm vorgegangen; später fand er sich in der Pflege einer Frau, Madame Delmar, einer Schweizerin, die als Schildwache verkleidet im Temple Posten gestanden hatte. Dann wurde er in die Mitte des Vendéerheeres gebracht; doch dort erkrankte er schwer und genas nur langsam unter der Pflege seiner Schweizer Freundin, die ihn zugleich in der deutschen Sprache unterrichtete, damit er leichter für ihren Sohn gelten könne. Hier in der Vendée besuchte ihn General Charette mit zwei anderen Freunden. Gleichwohl wurde er bald darauf wieder verhaftet und abermals gerettet durch die Vermittelung von Josephine Beauharnais, die er auch für den Schutzengel hält, der im Temple über ihn gewacht hat. Ein Graf Montmorin, als Jäger verkleidet, war bei der Befreiung behilflich und blieb lange Jahre der treue Eckhard des Dauphin. Dieser reiste nun nach Italien, anfangs nach Venedig, dann nach Rom, wo er von dem heiligen Vater beschützt wurde. Doch das Revolutionsheer drang in Italien ein. Der Dauphin wurde das Opfer einer schrecklichen Katastrophe: das Haus, in dem er gewohnt, ging in Flammen auf; einer seiner Freunde und ein junges Mädchen, das ihn begleitete, wurden ermordet; nur Montmorin entging den Verfolgern. Der Dauphin flüchtete sich zur See nach England, wurde indeß ergriffen, nach Frankreich zurückgeführt und in einen französischen Kerker gebracht. Bald darauf schiffte man ihn wieder ein; wieder betrat er das Land, um nach viertägiger Fahrt, während welcher eine bewaffnete Eskorte ihn begleitete, abermals gefangen gesetzt zu werden. In diesem Gefängniß blieb er bis 1803, wo ihn abermals Montmorin befreite, unterstützt durch den Einfluß der Kaiserin Josephine. Nun verhandelten seine Freunde mit dem Grafen von Provence, nachherigem König Ludwig XVIII, doch dieser weigerte sich hartnäckig, ihn anzuerkennen; ja er schloß sich den feindseligen Verfolgern an. Als der Dauphin sich zum Herzog von Enghien nach Mannheim begeben wollte, der von dem Geheimniß seiner Existenz wußte, wurde er in Straßburg arretirt, von dort von Gendarmen abgeholt und nach einer mehrtägigen Fahrt abermals in einen Kerker geworfen, ein finsteres Kellerloch, in welchem er, vollkommen verwahrlost und verwildert, zuletzt kaum noch einem Menschen glich.

Hier blieb er bis zum Jahre 1809, wo ihn abermals Montmorin befreite. Mit diesem begab er sich über Frankfurt nach Böhmen, wo ihnen der Herzog von Braunschweig Empfehlungsbriefe nach Preußen gab. In Dresden fanden sie keinen Einlaß; in Preußen wurden sie in einer Dorfschenke als Spione verhaftet und vor den Kommandeur eines bewaffneten Korps geführt: es war dies Major von Schill. Er nahm sich ihrer anfangs an; doch von den Franzosen mit überlegener Macht verfolgt, konnte er ihnen nicht länger Schutz gewähren und gab ihnen eine Reitereskorte mit unter der Leitung eines Grafen Vetel. Diese wurde von den Franzosen angegriffen, Graf Montmorin fiel im Kampfe; der Dauphin wurde schwer verwundet besinnungslos in ein Hospital gebracht, später mit anderen Gefangenen des Schill’schen Korps nach der Festung Wesel eskortirt, wo ihn das Kriegsgericht zu den Galeeren verurtheilte. Unterwegs erkrankt und in ein Hospital gebracht, traf er dort einen Schill’schen Husaren Namens Friedrichs, mit dem zusammen er in einer Gewitternacht entwich.

Diese romanhafte Flucht wird in allen ihren Details erzählt; nach unglaublichen Entbehrungen und mannigfachen Schicksalen gelangten die Flüchtlinge nach Westfalen; hier fiel Friedrichs den Gendarmen in die Hände; der Prätendent, der sich in einen hohlen Baumstamm versteckt hatte, wurde von einem Hirten entdeckt, der ihm die Kunde vom Schicksale seines Genossen brachte, aber ihn gastlich aufnahm und einige Zeit lang verborgen hielt. Dann begab sich der Prinz allein auf die Wanderschaft nach Berlin, um dort in ein Regiment einzutreten; er verirrte sich mehrfach, einmal in einem großen Walde, aus welchem er keinen Ausweg fand. Da hörte er ein Posthorn; es kam eine Extrapost, in der ein junger Mann saß, der sich alsbald seiner annahm: er hieß Karl Wilhelm Naundorff und wollte aus Weimar sein; mit dessen Namen und Paß ausgerüstet kam er nach Berlin. Der eigentliche Naundorff, der wie ein Märchenprinz erscheint, verliert sich bald wieder in einem seitdem nicht gelichteten Dunkel. In Berlin wendet sich der Prinz, nachdem er erfahren, daß in Preußen keine Ausländer dem Militär eingereiht werden, an den Polizeipräsidenten Le Coq und überreicht ihm Papiere, die im Kragen seines Ueberziehers eingenäht waren. Le Coq erkennt die Handschrift des Königs Ludwig XVI. und der Königin; er macht dem Staatskanzler Hardenberg Anzeige von diesen Papieren, doch hat dies für den Prinzen weiter keine Folge, als daß Le Coq, nachdem sich der Berliner Magistrat geweigert, dem Dauphin ohne Legitimation das Bürgerrecht zu gewähren, diesem räth, sich nach einer kleineren Stadt, nach Spandau zu wenden, und ihn dort durch eine Bescheinigung über seinen bisherigen tadelfreien Lebenswandel legitimirt. Die Papiere selbst hat der Prätendent nie zurückerhalten. In Spandau erhielt er das Bürgerrecht und etablirte sich als Uhrmacher. Jene Schweizerin, die einmal im Temple Wache

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 247. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_247.jpg&oldid=- (Version vom 16.8.2020)