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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

scharfe Besen, mit welchem jetzt das Haus ausgefegt wird, gefällt ihr nicht – selbstverständlich. Den Alten mag es freilich nicht behagen, wenn frische Luft durch ihr warmes, verrottetes Nest fährt; aber das ficht mich nicht an, und noch weniger werde ich der Tante den Gefallen thun, das alte Lotterleben fortbestehen zu lassen und notorische Faullenzer im Geschäft zu behalten. Der alte Lenz ist schon seit fünf Wochen entlassen und hat mit Neujahr das Packhaus zu räumen … So, nun weißt Du’s, Grete, weßhalb der Junge vor den Thüren singt. Andere Kinder müssen das auch – es fällt ihnen keine Perle aus der Krone – und ich sehe nicht ein, weßhalb der Prinz aus dem Packhause zu gut dafür sein soll.“

Er schlug das Fenster zu, und Margarete ging ohne ein Wort der Entgegnung in die Hofstube. Dort hüllte sie sich in einen Shawl, schob eine kleine Geldrolle in die Tasche und schritt gleich darauf über den Hof nach dem Packhause.


18.

Die Thür des alten Hauses fiel schwerfällig hinter der jungen Dame zu, und sie blieb einen Moment regungslos am Fuße der Treppe stehen. Diese Stufen war sie an jenem entsetzlichen Tage heruntergekommen, um nach Damhach zu laufen und die grause Gewißheit zu erlangen, daß sie eine Waise sei. … Wenn er wüßte, wie der Unmündige jetzt hauste! Wie er ohne Gnade und Erbarmen Alles ausschied, was nicht ganz mit seinen Rechenexempeln stimmte! … An dem kleinen Max hatte der Verstorbene sein Wohlgefallen gehabt – mußte sie doch oft dabei an Saul und David denken – der finstere, melancholische Mann hatte sich auch dem Zauber nicht entziehen können, den der schöne, hellschauende Knabe auf Alle ausübte. Sie erinnerte sich, mit wie weicher Stimme er zu dem Knaben gesprochen, wie er seinem Schwiegervater versichert hatte, daß er den Knaben später in sein Komptoir aufnehmen werde. Und hätte er nicht auch damals, inmitten des verwüstenden Sturmes, am Fenster gesagt, daß der Knabe wohl nicht dazu bestimmt sei, Andere zu amüsiren? … Und nun sang das Kind in schneidender Winterkälte vor den Thüren! –

Sie stieg die Treppe hinauf. Das Bretterwerk unter ihren Füßen war schneeweiß, und ein feiner Wachholderduft wehte sie an – der echte thüringer Sonntagsduft!

Auf ihr leises Anklopfen erfolgte kein Herein, und auch ihr Eintreten wurde nicht sofort bemerkt, obgleich die wachsame Philine in der Küche anschlug; In der einen tiefen Fensternische saß Frau Lenz und strickte an einer bunten Wolljacke, und in der anderen stand der Arbeitstisch ihres Mannes; er saß tiefgebückt über seiner Arbeit. Erst bei dem lauten, freundlichen Gruße der jungen Dame sahen die beiden alten Leute auf und erhoben sich.

Den erstaunten, gespannten Mienen des Ehepaares gegenüber gerieth Margarete plötzlich in Verlegenheit. Ihr warm aufquellendes Gefühl hatte sie hierher getrieben; aber sie kam aus dem Hause, wo den alten Leuten ein unerbittlicher Feind lebte, der ihnen das Brot vom Munde nahm und sie hinausstieß in Sorge und Elend. Mußten sie nicht Bitterkeit und Mißtrauen gegen Alles empfinden, was von dorther kam?

Der alte Maler kam ihr zu Hilfe. Er bot ihr herzlich die Hand und führte sie nach dem Sofa … Da saß sie nun in derselben Ecke, wo man vor zehn Jahren das abgehetzte, fiebergeschüttelte Kind zärtlich gehegt und gepflegt hatte. Jener Abend trat ihr in allen Einzelnheiten vor die Seele, und sie begriff nicht, wie der Papa nach solchen Beweisen von Hilfsbereitschaft und Güte für sein Kind in seinem Hochmuth gegenüber den Bewohnern des Packhauses bis an sein Ende hatte verharren mögen. Und wie schlimm stand es jetzt erst um die alten Leute!

Noch war der Mangel nicht sichtbar. Die Stube war wohlig durchwärmt. Ein großer warmer Teppich bedeckte den Fußboden; weder Möbel, noch Fenstergardinen sahen verkommen und abgenutzt aus – man sah, es war all die Jahre her Geld und Sorgfalt aufgewendet worden, das Behäbige des Heims zu erhalten. Inmitten des Zimmers stand der hergerichtete Mittagstisch. Das frisch aufgelegte Tischtuch glänzte wie Atlas, die Servietten steckten in feinen Ringen, und neben den gemalten Porcellantellern lagen Silberlöffel.

„Ich habe Sie in Ihrer Arbeit gestört,“ sagte Margarete entschuldigend, während Frau Lenz sich zu ihr auf das Sofa setzte und ihr Mann den nächsten Stuhl einnahm.

„Es war keine Arbeit, nur ein Zeitvertreib,“ erwiderte der alte Maler. „Ein festes Arbeitspensum habe ich nicht mehr, und da male ich an einer Landschaft, die ich vor Jahren angefangen habe. Freilich geht es langsam. Ich bin auf dem einen Auge völlig erblindet, und das andere ist auch ziemlich schwach; so bin ich immer nur auf die wenigen hellen Mittagsstunden angewiesen.“

„Man hat Ihnen Ihr festes Arbeitspensum genommen?“ fragte Margarete, unumwunden auf ihr Ziel losgehend.

„Ja, mein Mann ist entlassen,“ bestätigte Frau Lenz bitter. „Entlassen wie ein Tagelöhner, weil er als gewissenhafter Künstler die Arbeit nicht so massenhaft lieferte, wie die jungen gedankenlosen Schmierer –“

„Hannchen!“ unterbrach er sie mahnend.

„Ja, lieber Ernst, wenn ich nicht spreche, wer soll es sonst?“ erwiderte sie herb, und doch auch mit einem wehmüthigen Lächeln in den vergrämten Zügen. „Soll ich in meinen alten Tagen aufhören, das zu sein, was ich zeitlebens gewesen bin, der Anwalt meines allzu bescheidenen, guten Mannes?“

Er schüttelte den grauen Kopf.

„Ungerecht dürfen wir aber auch nicht sein, liebe Frau,“ sagte er mild. „Für mein festes Einkommen habe ich allerdings in den letzten zwei Jahren nicht mehr die entsprechende Arbeit geliefert, meiner Augen wegen. Ich habe das auch gesagt und um Bezahlung per Stück gebeten, aber der junge Herr will davon nichts hören. Nun, ihm steht das Verfügungsrecht zu, wenn er auch noch nicht mündig erklärt ist und die Testamentseröffnung noch bevorsteht … Auf dieses Testament hoffen noch manche von den alten Arbeitern draußen in Dambach, denen es ähnlich ergeht wie mir.“

Margarete wußte von Tante Sophie, daß ein Testament ihres Vaters vorhanden war, welches in den nächsten Tagen eröffnet werden sollte; aber es war nur eine flüchtige Erwähnung gewesen, die Tante mochte nichts Näheres wissen. Das sagte die junge Dame auf den eigenthümlich gespannten Blick des alten Mannes hin. Sie hatte auf diese Thatsache wenig Gewicht gelegt, noch weniger aber war ihr der Gedanke gekommen, daß die letztwillige Verfügung des Verstorbenen möglicher Weise Reinhold’s Eigenmächtigkeiten rückgängig machen könne.

„Mein Gott,“ rief sie lebhaft, „wenn Sie meinen, daß das Testament Vieles ändern kann –“

„Es wird und muß Vieles ändern,“ fiel Frau Lenz mit sonderbar harter Betonung und Bestimmtheit ein.

Margarete verstummte für einen Moment, betroffen in den noch immer schönen blauen Augen der alten Frau forschend – eine Art von wilder Genugthuung funkelte in ihnen auf. „Nun ja,“ setzte sie dann nachdrücklich, mit schwerem Vorwurf hinzu, „wozu dann die Grausamkeit, das Kind ums Brot auf der Straße singen zu lassen?“

Frau Lenz fuhr empor und trat auf ihre Füße. Sie war lahm und konnte sich nur schwer fortbewegen; aber in diesem Moment schien sie von Schmerz und Schwäche nichts zu fühlen. „Grausam? Wir? Gegen unser Kind, unseren Abgott, unser Alles?“ rief sie wie außer sich.

Der alte Maler ergriff begütigend ihre Hand. „Ruhig Blut, liebes Herz!“ mahnte er mildlächelnd. „Grausam sind wir zwei alten Menschen nie gewesen, gelt Hannchen? Nicht gegen die kleinste Kreatur der Schöpfung, geschweige denn gegen unseren Jungen … Sie haben ihn singen hören?“ wandte er sich zu Margarete.

„Ja, vor unserem Hause, und das Herz hat mir wehe gethan. Es ist so bitterkalt – ich meinte, der Athem müsse ihm vor dem Munde gefrieren. Er wird sich erkälten.“

Herr Lenz schüttelte den Kopf. „Der kleine Bursche hat sich selbst hart gewöhnt. Die Stube da ist ihm zu eng für seine Stimme, und doch steht er oft, ehe wir uns dessen versehen, droben am Bodenfenster oder auf dem offenen Gange und singt in Sturm und Schneegestöber hinein.“

(Fortsetzung folgt.)

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 208. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_208.jpg&oldid=- (Version vom 16.3.2024)