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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

an der ich mir emporhelfen werde – er stellt einen neuen Katalog zusammen –“

„Und die Menschen dort sind Dir auch sympathischer –“

„Sympathischer als der Großpapa und Tante Sophie? Nein!“ unterbrach sie ihn kopfschüttelnd. „Ich bin viel zu sehr ihres Gleichen an Temperament und Charakter, als daß Andere Bresche zwischen uns legen könnten –“

„Die Beiden sind nicht Deine einzigen Angehörigen hier, Margarete.“

Sie schwieg.

„Ach, die armen Todtgeschwiegenen! Mit denen haben es die in Berlin freilich leicht!“ sagte er bitterlächelnd. „Die Edlen aus Pommern oder Mecklenburg oder irgendwo her können ruhig ihr Ritterschwert stecken lassen –“ er unterbrach sich und wurde roth unter ihrem unwilligen Blicke. „Verzeihe!“ setzte er rasch hinzu. „Das durfte ich nicht – in diesen dunklen Stunden nicht!“

„Ja, in diesen Unglücksstunden ist es grausam, mich an ein ewig lächelndes Gesicht zu erinnern!“ bestätigte sie fast heftig. „Ich fühle zum ersten Male, wie gram man solchen wohlgenährten, rosigen, gleichmüthigen Menschen sein kann, wenn man tieftraurig ist. … Man fühlt sich als gebeugte Jammergestalt, und da ragen sie neben Einem empor, blühend und seelenruhig, und in jedem Zuge steht zu lesen: ‚Was ficht mich das an?‘ … Die Junge vom Prinzenhofe stand heute auch so neben mir draußen am Sarge, stolz und frisch und kühl bis ins Herz hinein; ihr aufdringliches Parfüm erstickte mich fast, und das unaufhörliche Knistern ihrer langen Schleppe reizte meine Nerven bis zur Unerträglichkeit – ich hätte mit den Händen nach ihr stoßen mögen –“

„Margarete!“ – unterbrach er sie. Er ergriff mit sonderbaren Blicken ihre Hand; aber sie wand sich los.

„Besorge nichts, Onkel!“ sprach sie herb. „Soviel gute Manieren sind mir doch noch verblieben. Und wenn ich zurückkomme –“

„Nach abermals fünf Jahren, Margarete?“ fiel er ihr ins Wort und sah ihr gespannt in das Gesicht.

„Nein. Der Großpapa wünscht meine baldige Rückkehr – Anfang December komme ich wieder.“

„Dein Wort darauf, Margarete!“ Er sprach das hastig und streckte ihr abermals die Rechte hin.

„Was kann Dir daran liegen?“ fragte sie achselzuckend mit einem scheuen, halben Aufblicke ihrer verweinten Augen; aber sie legte doch für einen Moment ihre kalten Fingerspitzen in seine Hand.

Drunten war der Wagen, der den Landrath nach der Bahn bringen sollte, längst vorgefahren, und jetzt erschien die Frau Amtsräthin im großen Salon und kam die Zimmerreihe daher. Sie sah klein aus wie ein Kind in dem schlichten, wollenen Trauerkleide, und das harte Schwarz ihrer Krepphaube machte das feine, verwelkte Gesichtchen förmlich mumienhaft. Neben der officiellen feierlichen Trauer in ihren Zügen machte sich in diesem Augenblicke aber auch eine Art von unwilligem Befremden geltend.

„Wie, hier finde ich Dich, Herbert?“ fragte sie, auf der Schwelle verweilend. „Du hast Dich so eilig von unseren theilnehmenden Freunden verabschiedet, daß ich die Entschuldigung dafür nur in Deiner beabsichtigten Fahrt nach dem Bahnhofe finden konnte. Nun wartet der Wagen längst vor dem Hause, und Du stehst hier bei unserer Kleinen, die schwerlich auf Deine Tröstungen hören wird – dafür kenne ich die Grete. … Du wirst zu spät kommen, lieber Sohn!“

Ein undefinirbares, schwaches Lächeln flog um die Lippen des „lieben Sohnes“; aber er nahm pflichtschuldigst seinen Hut und ging schweigend hinaus, während die Frau Amtsräthin den Arm der Enkelin in den ihren zog, um sie fortzuführen. Droben in „Großmütterchens“ Salon sei es wohlig warm, und die Theemaschine summe, wie die alte Dame in trauervoll gedämpftem Tone sagte; Onkel Theobald werde wohl sehr erkältet ankommen, und da thue eine Tasse heißen Thees noth. … Und es sei doch sehr zu beklagen, daß der Onkel dem Einsegnungsakte nicht habe beiwohnen können; eine solche illustre Trauerversammlung habe das Lamprecht’sche Haus noch nie gesehen; geachtete Namen allerdings immer genug, nie aber hohen Adel – noch nie! Ob das nicht der herrlichste Abschluß eines stolzen Menschenlebens sei? Ein Abschluß, über den sich die Engel im Himmel freuen müßten!


17.

Es war Winter geworden, so ein rechter Winter thüringischer Art, der die Federbetten der Frau Holle oft so lange über die Berge und Thaltiefen ausschüttet, bis nur noch die niederen Firste der Dorfhäuser aus dem silberweißen Gestäube hervorragen. … Auch die kleine Stadt an der Pforte des Thüringer Waldes erhielt ihr redliches Theil der warmen Schneedecke. Blank und glatt, und immer neue Millionen der Schneesternchen in sich einwebend, lag sie da; alle Missethaten der Oktoberstürme, die mühsam geflickten Schäden an Mauern, Dächern und Thürmen und auch das wieder hergestellte Ziegeldach des Packhauses im Lamprecht’schen Hofe verschwanden unter dem eintönigen Weiß.

Und draußen vor dem vergoldeten Eisengitter des halboffenen steinernen Häuschens, dessen Fallthüren sich vor acht Wochen über dem letztverstorbenen Lamprecht geschlossen hatten, thürmte der Flockenwirbel eine alabasterne Mauer, ein Epitaphium, und wer lesen konnte, für den stand auf der glitzernden Schrägseite: „Bleibt fern! Was hinter mir liegt, hat mit euch draußen nichts mehr zu schaffen!“ – Einsame Schläfer! Einer nach dem anderen waren sie hier eingerückt, und wohl ein jeder der alten Kauf- und Handelsherren hatte bei diesem nothgedrungenen Abmarsche, beim Scheiden aus der geliebten Firma im Stillen gemeint: „Es wird nicht gehen ohne Dich!“ Aber es war gegangen; das Geschäftsgetriebe war stets über der vermeintlichen Lücke präcise zusammengeklappt, und die Bücher hatten darnach keinerlei Verlust zu verzeichnen gehabt.

So hatte sich auch die letzte Wandelung anscheinend geräuschlos vollzogen. Reinhold war zwar noch minorenn, aber er hatte das achtzehnte Jahr überschritten und sollte binnen Kurzem mündig gesprochen werden, eine leere Form, deren Vollziehung durchaus nicht erst abgewartet zu werden brauchte. Der junge Kaufmann mit den kühlen Principien eines greisen Kopfes hielt die Zügel schon nach wenig Tagen stramm in den Händen, und er war sattelfest, das mußte ihm ein Jeder lassen. Der erste Buchhalter und der Faktor, die einstweilen mit der Fortführung der Geschäfte betraut waren, sanken neben ihm an Macht und Willen zur Null herab und machten ihr Einspruchsrecht, im Hinblicke auf die kurze Dauer seines Amtes und die Reizbarkeit des Erben, nur selten geltend. Die Anderen aber, die Herren im Komptoir und die in der Fabrik Beschäftigten, duckten sich scheu und finster über ihre Arbeit, wenn der nervöse lange Mensch, schlotterig in Haltung und Gliedmaßen, aber mit Augen voll entschlossener, unerbittlicher Härte, in den Arbeitsräumen erschien. Der Kommerzienrath war auch streng gewesen und hatte den Untergebenen selten ein freundliches Wort gegönnt; aber an seine Gerechtigkeit hatte man nie vergebens appellirt; dies und seine Noblesse in Bezug auf die Bezahlung seiner Leute – „leben und leben lassen“ war sein Grundsatz gewesen – hatte ihm bei all seinem Hochmuth dennoch die Herzen Aller geneigt gemacht.

Daran übte jetzt der jugendliche Nachfolger eine geradezu vernichtende Kritik.

„Das Alles hat ein Ende! – Dem Papa ist Geld genug durch die Finger gefallen – er hat gehaust wie ein Kavalier, Kaufmann ist er nie gewesen!“ sagte er und begann „aufzuräumen“ mit dem alten Schlendrian. … Da wurde gleichsam über Nacht Vieles anders. –

Margarete war auch wieder da – seit vorgestern Abend. Tante Sophie hatte die Stunde ihrer Ankunft gewußt und war mit dem Wagen an die Bahn gekommen, und die Frau Amtsräthin hatte sich herabgelassen, mitzufahren, um die Verwaiste unter die großmütterlichen Flügel zu nehmen. Aber die alte Dame war nicht wenig überrascht gewesen, mit der Enkelin auch den Herrn Landrath aus dem Koupé steigen zu sehen. Er hatte sich als Abgeordneter des Landtages seit mehreren Wochen in der Residenz aufgehalten und war erst in den nächsten Tagen zurückerwartet worden. „Ein besonderer Fall“ habe ihn für einige Stunden nach der nächsten größeren Station geführt, hatte er lächelnd gesagt, und da sei es ihm sehr lieb gewesen, die heimkehrende Nichte zu treffen und sie während des mehrstündigen Aufenthaltes auf dem Bahnhofe beschützen zu können. Die Frau Amtsräthin hatte ärgerlich den Kopf geschüttelt über dies „unnütze Hin- und Herfahren bei der Kälte“. „Der besondere Fall“ hätte sich jedenfalls bequem auch auf dem Heimwege abwickeln lassen; aber der Dampf mache es jetzt den Menschen allzu leicht, jeder Laune nachzugeben.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 206. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_206.jpg&oldid=- (Version vom 16.3.2024)