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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

ernsthaften Manne zu führen begann. Die Beiden sprachen von der Weberniederlassung und ihrer in unruhigen Zeiten gefährdeten Lage außerhalb des Schutzes der Stadtmauer.

„Sie glauben, das tausendjährige Reich sei vor der Thür,“ hörte Georg den Nachbar geheimnißvoll sagen. „Da brauchen die Städte keine Mauern mehr, denn Krieg und Waffen haben ein Ende.“

Der Bürgermeister schüttelte den Kopf. „Bis dahin hat es gute Weile. Giebt es einen Alarm, so müssen sie mit ihrer beweglichen Habe hinein in die Stadt und die Häuser preisgeben.“

„Sie haben aber gut gebaut,“ warf der Andere ein.

Doktor Tiedemars zuckte die Achseln. „Wir leben ja auch jetzt mit den Nachbarn in Frieden,“ sagte er vorsichtig.

„Die Leute kommen Einem aber doch wie bethört vor,“ meinte der Tischnachbar wieder, „mit diesem Glauben, daß Gott der Herr um sie und ihres Gleichen noch alle Tage Wunder thun müsse. So hoch vermißt sich unser Einer nicht, sondern denkt, wenn der Herrgott bei dem gewaltigen Weltregiment nur dann und wann einmal Zeit finde, einen Blick in unser Ecklein hinein zu werfen, so genüge das, um unsere Händel alle wieder auf eine Weile in Gang zu bringen.“

„Soviel ich wahrgenommen habe, vergessen sie aber über dem Beten wenigstens das Arbeiten nicht,“ sagte Herr Jakob, der Bürgermeister.

„Nein, sie sind brav und fleißig,“ gab der Andere zu. „Dazu friedfertig und ohne Arg. Und ihr Gemeindeältester, Meister Lukas, dem sie eine Art Schiedsrichteramt bei sich einräumen, hat etwas gar Erbauliches in seinem Wesen – es müßte schon ein grober, roher Klotz sein, der dem Manne widerstrebte. – Ihr waret ja auch unter denen, Tiedemars, die dem Herrn Landgrafen zuriethen, den Leuten hier eine Freistatt zu gewähren. Manche waren dagegen und fürchteten allerlei Mißbrauch. Gut, daß der Versuch so ausgefallen ist.“

Der Bürgermeister nickte behaglich; Maßregeln, zu denen er rieth, pflegten gewöhnlich gut auszuschlagen. Sein scharfer Blick hatte damals, vor etwa einem Jahrzehnt, jene Verhältnisse bald durchdrungen und richtig vorausgesehen, daß diese Leute, die, von einem fanatischen Bischof in der Ausübung ihrer Religion behindert, um des Glaubens willen auszuwandern beschlossen hatten und ihren ernsten Sinn und ihren Kunstfleiß mitbrachten, für ein jedes Gemeinwesen nur ein wünschenswerther Zuwachs sein konnten. Sie kamen von der flandrischen Grenze. Der Landgraf hatte ihnen Grund und Boden vor der Stadt geschenkt und ihnen das Holz zum Bauen unentgeltlich zufahren lassen, wobei die Bauern der nächsten Dörfer abwechselnd Frohnfuhren thun mußten.

Die Fremden waren in der Pfarrkirche der Altstadt eingepfarrt und ließen es an fleißigem Besuche des Gottesdienstes nicht fehlen. Doch hatte es sich bald ergeben, daß sie eine kleine Gemeinde in der Gemeinde bildeten. Die öffentlichen Gottesdienste genügten der Inbrunst eines lange unterdrückten Glaubenslebens nicht; sie kamen unter einander zum Gebet und Lesen der Heiligen Schrift zusammen. Von den Altangesessenen, die solche geistliche Bedürfnisse nicht hatten, wurde hier und da darüber gespottet, und so schlossen sich die Fremden nur mehr ab.

Doktor Tiedemars, der Bürgermeister, der in seinem Bereiche mit der Unparteilichkeit eines Herrschers waltete, hatte es gut mit den Fremden im Sinne, und etwaige Anliegen aus ihrer Mitte pflegten bei ihm ein williges Ohr zu finden. Doch kamen die Leute selten; sie schienen ihre Angelegenheiten, so weit dies nur immer anging, unter sich zu schlichten. Und das war das Einzige, was der Bürgermeister an ihnen auszusetzen hatte. Er hätte das fleißige Völkchen der Stadt gern völlig einverleibt.

Alles dies kam jetzt zwischen den Männern zur Sprache. Georg war zu ihnen gerückt; der Bürgermeister wunderte sich im Stillen über den verständigen Antheil seines Sohnes. Georg dagegen hatte niemals vor der Einsicht und der wohlwollenden Klugheit seines Vaters einen größeren Respekt empfunden. Und wer geliebt hat, kennt den heimlichen Reiz, den ein Gespräch ausübt, welches sich gewissermaßen in einiger Entfernung um den geliebten Gegenstand herumbewegt, der dabei nicht genannt, von allen Theilnehmern außer dem einen nicht geahnt, vielleicht nicht einmal gekannt ist, auf den für diesen aber im Stillen alles, was gesagt wird, Bezug gewinnt. Am Abend, als das Gastmahl vorüber war, war es dem jungen Mann nicht anders zu Muthe, als habe er sich in größerer Nähe der heimlich Ersehnten befunden.

So war sie tagelang der Mittelpunkt seiner Gedanken, und in Wirklichkeit hatte er noch nicht einmal ihre Hand berührt. Aber er war keineswegs entmuthigt, und die Verzögerung der Erfüllung eines zärtlich brennenden Verlangens war eine Erfahrung, so neu, daß seine kräftige Natur auch diesen bittersüßen Trank mit einer Art von Genuß schlürfte. Hilde mußte ja sein werden … früher oder später.

Und das Verhältniß zu Rosinen? Dasselbe blieb, was es von Anfang an gewesen war, durch diese heimliche Neigung Georg’s ziemlich unberührt. Denn der junge Mann hatte sehr bald wahrgenommen, daß, was er dem Mädchen zur Zeit an Theilnahme bieten konnte, sowohl seinen wie ihren Eltern genügte, und noch obendrein ein Anderes: fügte er dem freundlichen Betragen gegen sie dann und wann, wie es die Gelegenheit bot, einen gewissen Beisatz einer nicht immer bescheidenen Vertraulichkeit hinzu, so war auch Rosine selber völlig zufriedengestellt. So viel hatte er immer für sie übrig – und überdies sollte sie ja seine Frau werden. Er hoffte, es werde sich ganz leidlich mit ihr leben lassen.

Aber bis dahin war es noch lange hin und jetzt, jetzt handelte es sich um ein ganz Anderes: jetzt galt es, Hilden zu besitzen. Darüber hinaus dachte er nicht. Jede Erwägung der Folgen, alles das, was in Gestalt moralischer Hindernisse in diesem Falle hätte wirksam sein können, wurde verschlungen in dem leidenschaftlichen Verlangen. –

In der Stube des Meister Vanderport schnurrte der Webstuhl, in dem der alte Mann von früh bis spät seinem Tagewerke oblag. Hilde saß unweit des andern Fensters; auch sie rührte fleißig die Hände. Sie war mit einer Arbeit beschäftigt, in der die Frauen der Niederlassung fast alle große Geschicklichkeit besaßen, während dieselbe in der Gegend, in der sie sich jetzt befanden, wie überhaupt im größten Theil von Deutschland unbekannt war. Es war dies eine kunstreiche Herstellung durchbrochener Borden und Säume leinener Gewebe, indem Fäden ausgezogen, andere zu bestimmten Figuren zusammengefaßt und so die reizendsten Muster hergestellt wurden. Durch Ausnähen mit bunter Seide konnte diesen Verzierungen noch größere Mannigfaltigkeit und Reichheit gegeben werden. Es gab bestimmte, so zu sagen altberühmte Muster, schon an den Altardecken der Klöster aus dem frühen Mittelalter befindlich, und viele begnügten sich, diese nachzuahmen. In andern Arbeiterinnen aber war neben der Geschicklichkeit der Finger ein selbständig künstlerischer Trieb thätig. Sie erfanden neue Figuren und Zusammenstellungen, und ihre Arbeiten wurden besonders geschätzt und erzielten an den alten Absatzorten, in den reichen flandrischen Städten, hohe Preise.

Unter diese geschicktesten Stickerinnen gehörte Hilde. Man sah es der aufrechten Haltung und dem frei und leicht getragenen Oberkörper nicht an, wie viele Stunden täglich sie über eine mühsame Arbeit gebeugt saß. Bei einigen etwas sauern Gemüthern unter der frommen Gemeinde galt des Meister Lukas Tochter sogar dafür, daß sie im Grunde des Herzens doch wohl von weltlicher Hoffahrt angesteckt sein müsse, da sie den Kopf allzu hoch trüge. Ihr Vater aber hatte, sobald solche Besorgnisse laut wurden, nur sein mildes Lächeln, oder er sagte auch wohl:

„Ihr wißt doch, Nachbar, sie hat den aufrechten Gang von ihrem Großvater, ihrer Mutter Vater, überkommen, der ein Kriegsmann war, aber ein einfältiger Christ dazu. Die Bibel mit den dunkeln Flecken, die das Blut seiner letzten Wunde darin zurück gelassen hat – denn er trug sie stets bei sich – hat Hilde als Erbstück erhalten. Ich habe nichts Besseres für sie zu erbitten gewußt, als daß sie dem guten Manne nacharten möge, in Herzenslauterkeit wie in so vielem Andern. Laßt uns hoffen, daß ich erhört worden bin.“

Es ging auf den Abend und Hilde hob den Kopf von der Arbeit in die Höhe, gegen das Fenster, dessen kleine Scheiben nicht mehr Licht genug für ihre feinen Stiche durchlassen wollten. Eben verdunkelte auch noch der Schatten eines Vorübergehenden ihren Platz. Sie sah gerade noch die dunkle Kleidung eines Mannes, und Hilde seufzte ein wenig.

Es war ein gar ernsthaftes, stilles Leben in der frommen Gemeinschaft gewesen, für die Jugendjähre einer lebensvollen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 199. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_199.jpg&oldid=- (Version vom 14.8.2020)