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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

fließend und fest sind sie geschrieben und wo Korrekturen erscheinen, sollen sie weniger Versehen und Fehler bessern, als neue Pläne aufstellen. Die Zeit, in welcher Bach lebte, war der polyphonen Formen des musikalischen Ausdrucks weit mehr Meister als die unserige. Aber auch in dieser Zeit hat Keiner die schwierigsten Bildungen der Tonsprache in der Weise beherrscht wie Bach, der spielend alle bekannten Probleme löste und immer neue aufstellte. Und in diesem vollendeten Kunstkörper – welch eine außerordentliche Menschennatur, welch’ eine Dichterseele von wunderbarster Fülle und Vielseitigkeit, von einer Eigenart und Größe, die man nur schwer vergleichen kann! Goethe oder Beethoven hat diesen Bach ein Meer genannt. Es liegt mehr als ein bloßes Spiel in diesem Wort. Denn es bleibt immer etwas Unergründliches an diesem Meister und Niemand, der nicht Alles von ihm kennt, glaube ihn zu kennen. Er überrascht immer wieder mit Bildern, die wir in seiner Phantasie nicht vermuthet hatten. Es ist nöthig dies gerade mit Bezug auf seine Kantaten auszusprechen, denn von ihnen ist zur Zeit nur ein verschwindend kleiner Bruchtheil praktisch bekannt, das heißt wirklich ins musikalische Leben eingedrungen.

Diese Kantaten hat Bach zum sonntäglichen Gebrauche für die Leipziger Kirchen geschrieben. Zu ihnen kommt noch eine Anzahl Motetten, die für die Sonnabendsvesper bestimmt waren. Sie sind nie ganz vergessen worden; die Schülerchöre in Sachsen hatten sie auch zu einer Zeit auf dem Repertoire, wo von den andern Gesangwerken Bach’s keine Note mehr bekannt war. An diesen Motetten machte Mozart während seines Besuchs in Leipzig im Jahre 1789 die Bekanntschaft Bach’s.

Für die Karwoche schrieb Bach die Matthäuspassion: am Karfreitag 1729 kam sie in der Thomaskirche zur ersten Aufführung. Die Lukaspassion ist noch in Weimar komponirt, die Johannespassion in den letzten Monaten der Köthner Zeit. Zwei andere Passionen sind verloren gegangen. Das Weihnachtsoratorium entstand 1734. Von den übrigen Werken, welche in Leipzig durch die amtliche Thätigkeit hervorgerufen wurden, seien noch die sogenannten Kleinen Messen und das Magnificat genannt. Auch die große H-moll-Messe, welche Bach für den Dresdner Hof begann, fand, wenn auch nur stückweise, Verwendung beim Leipziger Gottesdienst.

Ueber den kirchlichen Arbeiten schlummerte die Instrumentalkomposition nicht völlig. Von Orgelwerken nennen wir nur die wuchtige F-dur-Tocata, von Klavierkompositionen den zweitens Theil des „Wohltemperirten Klaviers“ und die „englischen Suiten“, so nach Bach’s Tode genannt, als sie in London gedruckt erschienen. Seine Beziehungen zu fürstlichen Personen, seine geselligen Verhältnisse veranlaßten Bach in der Leipziger Zeit auch zu mancher weltlichen Kantate: die sogenannte Bauernkantate und die Kaffeekantate sind davon die bekanntesten. Aus einem ähnlichen Gelegenheitsstück, das schon in Weimar entstand, der „Jagdkantate“, ist neuerdings die Arie „Mein gläubiges Herze“ (der Text ist verändert) sehr populär geworden. Bach’s letzte Arbeit war ein Orgelchoral „Wenn wir in höchsten Nöthen sein“. Er diktirte ihn seinem Schwiegersohne in die Feder, denn er selbst war bereits erblindet. Am Abend des 28. Juli 1750 schloß er die Augen für immer. Er wurde auf dem Johanniskirchhofe feierlich begraben. Die Stelle seines Grabes ist nicht mehr zu bestimmen.

Das erhaltene Hinterlassenschaftsverzeichniß überzeugt uns von der wohlhäbigen Einrichtung des Bach’schen Hausstandes. Namentlich an Instrumenten war er reich, fast eine vollständige Orchesterbesetzung ist vorhanden; eine Zeit lang muß Bach zugleich gegen 10 Klaviere besessen haben. Nichts destoweniger starb die Wittwe des großen Mannes als Almosenfrau in Leipzig und für die letztüberlebende seiner unverheiratheten Töchter wurde im Jahre 1800 bei den deutschen Musikern gesammelt.

Das äußere Geschick war Bach nicht so freundlich, wie man es einem so großen und einem so guten Mann gern wünscht. Es hat auch seinen Werken mitgespielt. Ziemlich der vierte Theil ist verloren gegangen und über die vorhandenen lagerte sich jahrzehntelang dichtes Vergessen. In den ersten Decennien unseres Jahrhunderts waren die Söhne Sebastian’s, namentlich der Hamburger Philipp Emanuel und der Londoner Johann Christian, viel berühmter als ihr Vater. Wer weiß, ob es heute vor 50 Jahren möglich gewesen wäre, ein Jubiläum Johann Sebastian Bach’s zu feiern! Der Umschwung knüpft an den Namen Felix Mendelssohn’s an, der im Jahre 1829 die Matthäuspassion aus dem Staub des Archivs hervorzog und sie mit der Berliner Singakademie zu einer Aufführung brachte, welche durch ganz Deutschland hin eine mächtige Bach-Begeisterung entzündete.

Diese Begeisterung ist seitdem nicht wieder erkaltet, und hundert Jahre nach seinem irdischen Tode erstand Bach zu neuem geistigen Leben. Im Jahre 1850 gründete sich in Leipzig eine Bach-Gesellschaft, die sich die monumentale und kritisch genaue Herausgabe der Werke Johann Sebastian Bach’s, soweit sie noch aufzufinden, zum Ziele stellte. Sie hat heute ihre Aufgabe fast vollendet. Die Hauptmitarbeiter waren Julius Rietz, Wilhelm Rust und in neuerer Zeit Alfred Dörffel. Einen äußerst wichtigen Beitrag zur richtigen Erkenntniß des Meisters und der Natur seiner Werke hat Philipp Spitta in seiner umfassenden Bach-Biographie geliefert.

Staunend stehen wir vor den reichen Schätzen, die mit dem Siegel J. S. Bach heute vor uns ausgebreitet liegen. Nur der Oper blieb der große Meister fern. Wie wir meinen: mehr aus äußeren Gründen, als durch innere Principien zurückgehalten. Auf allen anderen Feldern, in welchen seine Zeit musikalische Kunst pflegte, schuf er Werke von bleibendem Werthe, Meisterstücke, die in ihrer Art nicht zu übertreffen sind und die Umgebung auf weite Entfernung hin sichtbar überragen. Der größte Theil seiner Kompositionen fällt dem kirchlichen Gebiete zu, und daher kommt es, daß Viele in Bach immer und immer nur den kirchlichen Komponisten sehen wollen. Bach schließt die Reihe großer kirchlicher Tonsetzer ab, die im 16. Jahrhundert begann, und die protestantische Kirche hat keinen größeren Meister gehabt. Er hat ihre Tonkunst erst vollendet. Und nochmals sei es wiederholt: wir sind noch weit davon ab, die große Masse seiner kirchlichen Werke ausgenützt zu haben, sie überhaupt nur zu kennen.

Nicht so mißverstanden wie die Kantaten, aber in gleichem Grade unbenutzt und unbekannt sind Bach’s Choralvorspiele, die wir an dieser Stelle als einen Anhang zu seiner rein geistlichen Musik erwähnen wollen. Sie sind die sinnigsten Paraphrasen unserer herrlichsten Kernlieder, die man sich musikalisch vorstellen kann. Daß noch kein Verleger die gute Idee gehabt hat, diese einzigen Kabinetstücke poetischer Tonkunst aus dem originalen Orgelgewande in ein passendes Klavierarrangement übertragen zu lassen! Es wäre damit das schönste Brevier für die geistliche Hausmusik gefunden.

In diesen Choralvorspielen hat Bach unstreitig für seinen Protestantismus ein schönes und gemüthvolles Zeugniß abgelegt. Es ist aber nichts Anderes als ein geistreicher Unsinn, wenn man den Protestanten Bach auch aus allen seinen übrigen Instrumentalkompositionen heraussuchen will. Wer wird bestreiten, daß in dem Cis-moll-Präludium des ersten Theils vom „Wohltemperirten Klavier“ und in anderen langsamen Stücken seiner Klavierkomposition ein Geist lebt, den man in die Form eines religiösen Gedichtes fassen kann? Aber wie man aus der ganzen Menge dieser fein belebten Genre- und Charakterstücke, die Bach in diesen Bänden niedergelegt hat, aus dem wilden Sturm seiner Orgelphantasien etwas specifisch Protestantisches heraushören will, das begreife wer kann! Einer unserer gelesensten Kulturhistoriker spricht Bach auch den Humor ab. Den Humor, eine der stärksten Seiten in Bach’s Natur! Die Lustigkeit war ein Familienzug der Bachs, und wenn sie ihren jährlichen Geschlechtstag hielten, kam dieser immer zu drastischem musikalischen Ausdrucke. In seinem Humor zeigt sich Bach, ähnlich wie Luther, oft als Mann des Volks. Da greift er zu den einfachen Tanz- und Liedweisen, die Jedermann bekannt und lieblich erscheinen. Der obengenannte Biograph Bach’s hat eine Zahl von wirklichen schnurrigen Volksmelodien nachgewiesen, welche Bach in größere Werke eingeschmuggelt hat. Besonders frei läßt Bach der guten Laune die Zügel in seinen Suiten und Koncerten für Orchester schießen. Die kräftigen Spielarten der Fröhlichkeit wiegen vor, doch fehlen die zierlichen nicht ganz. Die Polonaise der H-moll-Suite ist ein solches vollendetes Bild der Vergnüglichkeit unter der Rokokogesellschaft.

Was das erneute Aufleben der Bach’schen Kunst unserem gegenwärtigen Musikleben bereits genützt hat, müßte besonders ausgeführt werden. Die Wiederaufnahme seiner Werke gab den Anstoß zu einer allgemeinen musikalischen Renaissance, deren nächste Folgen wir bereits wohlthätig verspüren. Ihr Ende vermag aber noch Niemand abzusehen.


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