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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)


den Schnee gewankt, eine kleine krummbeinige, vornübergebeugte Gestalt.

„Wenn ich nicht zu faul zum Aufstehen wär, ich wollt’ Dir Beine machen,“ brummte die Alte und verwandte keinen Blick von dem Buben.

Er schien aber heute alle Lust zur abendlichen Unterhaltung verloren zu haben; zitternd erstieg er die paar Stufen, um in das Haus zu gehen, aber als er an der Klinke drückte, fand er die Thür verschlossen.

„Richtig,“ sagte die Alte, „die Hausleute sind ja zu einer Hochzeit, da haben sie abgeschlossen und an das Kind hat Niemand gedacht.

Der Bube stellte seinen Kessel sammt Haken vor die Thür und setzte sich auf die Schwelle. Da saß er einen Augenblick wie rathlos, dann erhob er sich plötzlich und lief zur Hökerin hinüber, heulend, ihr die blaugefrorenen Fingerchen entgegenstreckend.

„Ja,“ nickte sie, „das geschieht Dir schon recht – meinst, ’s giebt einen Apfel – Ohrfeigen giebt’s, aber keinen Apfel.“ Dabei hielt sie ihm die Kaffeeschüssel hin, und er trank mit vollen Zügen, die Augen ängstlich auf die Alte gerichtet, welche immer zu schelten fortfuhr.

Plötzlich, sie wußte selbst nicht wie’s zugegangen war, hatte sie den erfrorenen Buben auf dem Schoß, sie schlug den weiten Mantel um ihn und immer weiter scheltend, hielt sie ihn so fest an sich gepreßt. Bald hörte sie an dem ruhigen, tiefen Athem des Kindes, daß es eingeschlafen war, und sie schwieg und rührte sich nicht mehr. An dem Herzen dieser Achtzigjährigen hatte nie ein menschliches Wesen geruht, weder Liebe, noch Wohlwollen, noch Mitleid hatten diese starren Arme zu öffnen vermocht. Denn sie war immer brummig gewesen und nur für ihren Vortheil interessirt, der erschien ihr stets zweifelhaft, so oft ein Mann dabei im Spiel war. Jetzt ging von dem jungen Leben da eine wohlthuende Wärme auf sie über; sie lauschte auf die Athemzüge des Kindes, dessen Haupt unter ihrem Kinn ruhte, sie wiegte es sachte, und es fiel ihr ein Lied ein, das sie in der Schule gelernt – sie begann es zu singen, völlig stimmlos, mit zischenden Tönen.

Als der Laternenputzer heimkam, rief sie ihn zu sich.

„Da habt Ihr auch Euern Buben,“ sagte sie in ihrer allerbrummigsten Weise, „hab’ ihn Euch zum letzten Mal gehütet – bedank mich –“ und sie legte dem Mann das schlaftrunkene Kind in die Arme. Hierauf fuhr sie über eine Stunde später als gewöhnlich mit ihren Körben nach Hause.

Am andern Morgen trat der kleine Mann zur gewohnten Stunde aus dem Hause, um seinem Beruf nachzugehen. Den Blicken der alten Frau drüben begegnend, blieb er stehen, setzte sich wieder auf die Schwelle und schaute, wie sich besinnend, ernsthaft zu ihr hinüber. Dunkel erinnerte er sich an das Wohlbehagen, das er am vergangenen Abend empfunden. Er war ohne Mutter aufgewachsen und wußte nichts von der liebenden Sorgfalt, nichts von dem zarten Berühren einer treuen Mutterhand. War ihm eine Ahnung davon geworden am Herzen der alten Frau?

Plötzlich stand er auf seinem alten Platz vor dem Korbe rothleuchtender Aepfel, aber er schaute über diese hinweg der Alten ins Antlitz und sagte – diesmal ohne jede Nebenabsicht: „Du, ich heirath’ Dich.“

Sie mußte lachen – zum ersten Mal mußte sie über den kleinen Kerl lachen, und ohne sich zu besinnen, reichte sie ihm den schönsten Apfel im ganzen Korbe hin. Es war aber auch der einzige Heirathsantrag ihres Lebens gewesen.




Im Lande des Machdi.
Von Heinrich Brugsch.

In Folge der unerwarteten Reise unseres hochgeschätzten Mitarbeiters Heinrich Brugsch-Pascha nach Persien, die er als Mitglied der deutschen Gesandschaft bekanntlich im vorigen Jahre angetreten hatte, mußte leider die Fortsetzung seiner im Jahrgang 1884 der „Gartenlaube“ (Seite 510) begonnenen Artikelserie „Bilder aus Oberägypten“ unterbrochen werden. In einem uns noch vor seiner Abreise von Brugsch-Pascha eingesandten Manuskript findet sich die nachfolgende Schilderung jener Gegenden, durch welche die englische Expedition unter General Wolseley unter schweren Kämpfen die vielgenannten Wüstenmärsche ausführen mußte, und zugleich eine Beleuchtung der sudanesischen Wirren, die wir unsern Lesern nicht vorenthalten möchten. Der inzwischen erfolgte Fall Khartums und das Eingreifen der englischen Truppen unter Wolseley haben die vor mehr als einem halben Jahre niedergeschriebenen, durchaus zutreffenden Ausführungen des berühmten Orientforschers nur bestätigt.

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Nilaufwärts bis nach Khartum bewohnen die Stämme der sogenannten Barabra die schmale Rinne des Nilthales, eine öde trostlose Heimath, durch welche der Nil von Wassersturz zu Wassersturz sich in seinem Felsenbett hindurchdrängt. Armselige Dörfer und traurige Ansiedelungen zwischen Palmengebüsch und Dornakazien dienen der halbnackten Bevölkerung als Wohnorte, welche die Reisenden nur da zu betreten pflegen, wo die Ruinen von Tempeln einen kurzen Halt auf der Auffahrt bis zum zweiten Katarakt gebieten. Die Dörfer Korusko und Wadi-Halfa, in welchen sich zugleich die Sitze ägyptischer Behörden befinden, bilden gleichsam die Hauptstädte der heutigen nubischen Landschaft. Die Barabra, oder wie man sie richtiger bezeichnen sollte, die Nubavölker, reden ihre eigene Sprache, deren Stämme sich bis zu den Bergen südlich von Kordofan verfolgen lassen.

Die daselbst ansässigen Nubastämme zeigen den Negertypus in seinen markantesten Zügen: wolliges krauses Haar, aufgeworfene dicke Lippen und die bekannte platte, kleine Negernase. Obgleich die an den Nilufern seßhafte Bevölkerung der Barabra jede Verwandtschaft mit ihren Vettern in Kordofan entschieden in Abrede stellt und in der vergangenen Zeit des Sklavenhandels

keinen Anstand fand, an den Sklavenjagden auf dieselben einen regen Antheil zu nehmen, so steht dennoch die Stammverwandtschaft

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 154. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_154.jpg&oldid=- (Version vom 22.6.2021)