Seite:Die Gartenlaube (1885) 153.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Das nächste Mal blieb der Bube vor dem neugefüllten Eierkorb stehen. „Wo sind denn die alle her?“ fragte er, und als ihm keine Antwort wurde, gab er sich selber eine. „O, ich weiß – vom Huhn – es ist sehr schön von einem Huhn, so gute Eier zu legen.“

„Nun, dafür ist’s halt ein Huhn,“ brummte die Alte.

Nach einer Pause tiefen Besinnens erklärte der Junge: „Ich könnt’s nicht, und wenn ich auch ein Huhn wär’.“

Aber auch diese Worte, in denen gewiß eine große Anerkennung ihrer Waare lag, vermochten die Alte nicht zu rühren.

Ein anderes Mal berichtete er voll Eifers: „Du, dort an der Ecke der Gasse steht eine Frau, die ruft Dir schon lange, Du sollst hinkommen.“

„Geh’ hin und sag’ ihr, sie soll herkommen,“ erwiderte die Hökerin, und der kleine Lügner ging und kehrte nicht wieder.

Als einstmals eine feine schwarzgekleidete Dame an dem Hökerweibe und dem Kleinen vorüberging, blies die Alte gar gewaltig die Backen auf. „Puh,“ sagte sie, „das ist eine Noble, die sieht Unsereins gar nicht, aber wir kommen Alle auf denselben Friedhof, das ist immer meine Freud’.“

„Ist sie Eine, die nicht arbeitet?“ fragte der Kleine, „die kriegen vom Sankt Nikolaus hinten drauf.“

„Du meine Güte,“ unterbrach ihn die Frau, „wenn Einer auch so gar nichts von der Welt weiß – seit wann arbeiten denn die reichen Leut’? Dummer Bub!“

Der hielt jedoch an seiner Ansicht fest. „Der Vater sagt: Arbeiten oder Ohrfeigen – ja wohl!“

„Hör’ auf zu reden,“ schrie die Alte, „Du bist ein Esel!“

Der Bube besann sich einen Augenblick, alsdann erklärte er: „Meinetwegen – aber giebst Du mir jetzt einen Apfel?“

Die Hökerin griff nach dem Seil, mit dem sie ihre Körbe zu umwinden pflegte, und der Kleine verstand die Gebärde und trollte sich.

„Sie lauschte auf die Athemzüge des Kindes (S. 154).

Er ging ins Haus, kletterte auf allen Vieren die steile Treppe hinauf und trat in die niedrige Dachkammer, die nie verschlossen war. Da drin stand ein Bett, ein Tisch und ein paar Stühle; der Fußboden starrte vor Schmutz, ebenso die Fensterscheiben, die deßhalb nur ein gedämpftes Licht einließen. Ein paar Kleider lagen und hingen herum; frische Luft schien seit Wochen nicht in den Raum gekommen zu sein. Hier war der kleine Lumpensammler aufgewachsen; ganz verlassen von klein auf, lag er fast immer im Bett, bis der Vater heimkam und sein Mittagsbrot mit ihm theilte. Der Mann nahm den Kleinen dann vor sich auf den Tisch, aß sein Brot und Käs und schob von Zeit zu Zeit dem Kind einen Bissen in den Mund. Am Sonntag seifte und wusch er es tüchtig und nahm’s mit ins Bierhaus.

Jetzt zählte der Bube fünf Jahr, und der Vater fand es an der Zeit ihm das Nichtsthun abzugewöhnen. Wenn er des Abends von der Arbeit heimkam – er war Laternenputzer – fiel sein erster Blick auf den kleinen Kessel. Fand er ihn gefüllt, war’s gut, war es jedoch nicht der Fall, so erhielt der Bube seine Strafe mit den Worten: „Arbeiten oder Ohrfeigen!“ – Und das war die einzige Weltweisheit, die der kleine Geselle bislang begriffen, und an der er auch festhielt.

Obwohl sich nun die Hökerin jedesmal ärgerte, so oft er sich vor ihre Körbe pflanzte, so geschah es doch, daß sie plötzlich anfing die Gasse entlang zu blicken, wenn der Bube einmal länger ausblieb als gewöhnlich. Kam er, so war sie neugierig auf seine neuesten Anschläge, die alle darauf hinausliefen, einen Apfel zu haben. Aber ihre Widerstandskraft war eben so groß wie seine Sehnsucht, und so übten sie gegenseitig ihren Witz mit löblicher Ausdauer.

Die gelben Blätter über dem alten Kirchhofthore hatten sich allgemach zu den Füßen der Hökerin versammelt; sie zog ihren Mantel fester um sich, je kahler die Aeste jenseit des Thores zum Himmel ragten. Jetzt krachten die Räder des Todtenwagens über dem frischen Schnee, und nur die dunklen Lebensbäume ragten noch über die weißen Gräberreihen. Ging die Sonne unter, so leuchtete es feuerfarben durch die kahlen Aeste, und die Hökerin in ihrem rothen Mantel lehnte ein paar Minuten lang wie vergoldet unter dem schwarzen schneebestäubten Thore. An einem solchen kalten Abend hatte die Alte ihren blechernen Topf auf das glimmende Kohlenbecken gesetzt und erwärmte sich von Zeit zu Zeit den Magen mit einem Schluck heißen Kaffees. Der kalte Mond stand am Himmel, die Sterne blinkten, von fern ertönte das Geklingel der Schlitten und Wagen, Alles, was kam und ging, übereilte und überstürzte sich, um die erstarrten Glieder zu erwärmen. Die Hökerin erhob sich manchmal und blickte die Gasse entlang; er war noch immer nicht zu sehen. Kopfschüttelnd trank sie ihren Kaffee, und da er ihr heute gar nicht den gewohnten Genuß gewährte, fing sie an zu schelten. „Der Bengel – hol’ ihn der Deufel – treibt sich da im Schnee herum – unnützes Volk, die Kinder – sollten gleich groß auf die Welt

kommen.“ Wieder erhob sie sich – richtig, da kam es durch

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 153. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_153.jpg&oldid=- (Version vom 10.11.2019)