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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

wenigen Minuten das Kleid unversehrt wieder im Schranke hängen, freilich nicht, ohne daß Tante Sophie die moderne Ahnfrau gesehen habe.

Mit unwillkürlich verlangsamten Schritten und Bewegungen trat sie aus dem Gange. Die Schleppe rauschte mit einem förmlichen Getöse über die rauhen Dielen – in diesem panzerartig klirrenden Staatsgewande wäre der schönen Dore das lautlose Huschen freilich nicht möglich gewesen.

Der Hausknecht kam eben aus dem großen Salon und schritt durch den Flursaal nach dem Ausgange. Bei dem herankommenden Geräusch wandte er arglos den Kopf zurück und schoß gleich darauf entsetzt mit einem grotesken Sprunge zur Thür hinaus, die er rasselnd hinter sich zuschlug.

Margarete lachte über den Effekt und trat über die Schwelle des großen Salons; aber sie wich betreten zurück, denn die Tante war nicht allein, Onkel Herbert stand neben ihr am Fenster.

Gestern Nachmittag um dieselbe Zeit nun wäre es ihr sehr gleichgültig gewesen, ob der Onkel dort gestanden oder nicht. Er hatte ja nie zu Denen daheim gehört, an die sie besonders gern oder gar mit Heimweh gedacht, und auch das erste Wiederbegegnen bei ihrer Heimkehr hatte ihr keinerlei Interesse für ihn geweckt. Seit gestern Abend jedoch, wo sie einige Stunden droben bei den Großeltern mit ihm zusammen gewesen war, hatte sie ihm gegenüber das seltsame Gefühl eines moralischen Unbehagens. Nicht, daß sie sich durch die enthusiastische Verehrung der Großmama für den wohlgerathenen Herrn Sohn, oder den unverkennbaren Respekt, welchen ihr Vater dem jungen Schwager entgegenbrachte, hätte beeinflussen lassen – sie wußte ja, daß jene Beiden leider nur dem Glücke huldigten, welches sich an seine Fersen zu hängen schien, und einen Auserwählten in ihm sahen, weil Hochgestellte mit ihm wie mit ihres Gleichen verkehrten – das bestach sie nicht; nur der Großpapa, der sonst so gerade, unbestechliche Charakter, hatte sie stutzig gemacht. Es war doch kaum zu glauben, daß er völlig blind sei gegen die Art und Weise, wie sein Sohn Karriere machte, daß er nicht wisse, welche Mächte ihn mühelos über Staffeln hinweghoben, die Andere erst nach jahrelanger Aufbietung aller eigenen Kraft zu erringen vermochten. Und doch hatten dem alten Manne gestern inniges Wohlgefallen und väterlicher Stolz frank und frei aus den Augen gestrahlt. Er hatte wiederholt gegen das moderne Streberthum geeifert, das nie nach der Lauterkeit der Mittel frage, um emporzukommen; Fuchsschwanz und Katzenbuckel und die Tartüffes seien wieder einmal an der Tagesordnung und der rechtschaffene deutsche Sinn müsse sich vor den „Nachbarsleuten“ schämen, die es mit ansähen, wie diese schleichenden und buckligen Figuren auf dem großen Schachbrette Fuß zu fassen suchten.

Fühlte er in verblendeter Vaterliebe den Pfahl im eigenen Fleische nicht, oder verstand es der Herr Landrath, ihm Sand in die Augen zu streuen? Der hatte so gemüthsruhig dabei gesessen, als sei dies Anathema ganz in der Ordnung. Nicht ein einziges Mal war ihm das Roth der Verlegenheit oder der Beschämung in das Gesicht getreten, er hatte seine Cigarre geraucht und die feinen blauen Duftringel nachdenklich mit den Augen verfolgt; wenn er aber gesprochen, dann hatte es stets „Hand und Fuß gehabt“, wie Tante Sophie sich auszudrücken pflegte.

Uebrigens mochte doch der wahre Kern dieses Charakters sein wie er wollte, das focht sie nicht weiter an, es verdroß sie nur, daß er sich im Urtheil über die beiden Kinder seiner verstorbenen Schwester so gleich geblieben war – der exemplarisch fleißige Reinhold von ehedem schien für ihn nichts von seinen Tugenden eingebüßt zu haben, während er offenbar der „wilden Hummel“ auch heute noch nichts Gutes zutraute. Und hatte er nicht Recht? Reinhold ging in seinem Berufe auf, er war der kühle Verstand selbst – und in ihrem Kopfe spukten heute noch tolle Fastnachtsscherze, wie Figura zeigte ... Die Gluth des Aergers im Gesicht, versuchte sie, sich ungesehen zurückzuziehen. Die Beiden dort wendeten ihr den Rücken zu, sie schienen auf dem Fenstersims liegende Gegenstände zu betrachten, und das Rasseln der draußen zugeschlagenen Thür mochte für ihr Ohr das Rauschen der Schleppe übertönt haben. Nun aber war es wieder so still, daß die erste Rückwärtsbewegung des jungen Mädchens die am Fenster Stehenden aufmerksam machte. Tante Sophie wandte sich um und schien einen Moment sprachlos; dann aber schlug sie die Hände zusammen und lachte laut auf.

„Beinahe wär’ Dir’s geglückt, Gretel! Ach ja, gelt, ein Hauptspaß wär’s gewesen, wenn sich die alte Tante auch einmal gegrault hätte? Na, damit war’s nichts; aber es hat mir doch einen Stich durch und durch gegeben.“ Sie drückte unwillkürlich die Rechte auf die Brust. „Laffe Dich nur um Gotteswillen vor Bärbe nicht sehen! ... Nein, wie Du doch der armen Dore ähnlich bist in der Tracht, und hast doch kein Tröpfchen Blut von ihr in den Adern! Hast ja auch sonst ein ganz anderes Gesicht mit Deinem schmalen Näschen und den Grübchen in den Backen –“

„Gewisse Züge um Mund und Augen und die Haltung des Kopfes machen die Aehnlichkeit,“ fiel der Landrath ein. „Die schöne Dorothea hat es in ihrer Oppositionslust kühnlich mit den Vorurtheilen der Welt aufgenommen, wie ihr ungepudertes Toupet und ihre Heirath beweisen. Sie muß Eigenwillen und Uebermuth in hohem Grade besessen haben, und diese Charaktereigenschaften geben einen besonderen Stempel.“

Margarete hob gleichmüthig die Augen nach dem gegenüberhängenden Spiegel, der ihre ganze Gestalt zurückwarf. „Ja, wahr ist’s, es liegt viel kindischer Uebermuth in der dummen Maskerade! Aber Spaß macht sie mir doch, köstlichen Spaß! – Und wenn alle Welt die Nase darüber rümpft, es war doch wonnig, in das Staatskleid unserer „weißen Frau“ zu schlüpfen ... Und wahr ist’s auch, daß ich gern mit den Vorurtheilen der Welt anbinde – ein Staatsverbrechen, das natürlich gesetzten Leuten die Haare zu Berge treiben muß. Und darum hast Du ganz Recht, Onkel Herbert, mir den Text zu lesen, wenn auch in der verblümten Form der Satire.“ ... Sie zupfte die schönen Niederländer Spitzen an Brustlatz und Aermeln so ruhig und sorgsam zurecht, als sei sie vorhin nicht einen Augenblick außer Fassung gewesen, und trat tiefer in das Zimmer herein. „Ich fürchte nur, Du kommst auch jetzt nicht weiter mit mir, als damals, wo meine Schreibhefte und das Hersagen der französischen Vokabeln Dir die Nerven irritirten,“ fuhr sie achselzuckend fort. „Ich schreibe nämlich heute noch wie mit dem Zaunpfahl, und vor Pariser Ohren lasse ich mein Bischen Thüringisch-Französisch aus guten Gründen nie laut werden.“

„Geh, übertreib’s nicht! So schlimm wird’s nicht sein!“ sagte Tante Sophie lachend. „Da komm’ einmal her und sieh Dir den Schaden an!“

Sie nahm die Scherben einer antiken Vase vom Fenstersims und legte sie auf den großen Tisch inmitten des Zimmers.

„Ich behüte die Sachen hier oben mit Augen und Händen und hab’ auch bis jetzt noch kein Unglück gehabt mit dem zerbrechlichen Zeug, und nun macht mir der dumme Mensch, der Friedrich, den Streich und wirft die Vase da vom Spiegeltisch ... Und ich konnte nicht einmal zanken; dem armen Tapps klapperten die Zähne an einander vor Schreck, und es war fast zum Lachen, wie er seine paar Groschen aus der Tasche holte, um den Schaden zu bezahlen. Ich weiß nicht mehr, wie viel Dukaten die paar Thonscherben da gekostet haben sollen – ein unsinniges Geld war’s, das ist gewiß. Vetter Gotthelf, Dein Großvater, Gretel, hat die Vase aus Italien mitgebracht.“

Margarete war an den Tisch getreten. „Imitation, und noch dazu schlechte!“ sagte sie bestimmt nach kurzer Prüfung. „Der Großpapa hat sich betrügen lassen. Wirf die Scherben getrost in den Schutt, Tante! Bärbe’s geliebter Kaffeetopf ist von ähnlicher Abkunft.“

„Das klingt ja so entschieden, als spräche Onkel Theobald selbst,“ sagte der Landrath vom Fenster her. „Nun begreife ich, daß er seine Mitarbeiterin bereits schmerzlich vermißt –“

„Mitarbeiterin?!“ Sie lachte amüsirt auf. „Seinen dienstbaren Geist, einen Erdgnomen, willst Du sagen! So eine Art Wichtelmännchen, das geräuschlos den Ofen in der Bibliothek besorgt, was kein Dienstbote kann; das dann und wann eine Tasse starken Kaffees kocht und unbemerkt hinschiebt, wenn der große Forscher angestrengt arbeitet, und ab und zu eidechsenhaft still die Treppenleiter der Bibliothek hinauf und hinabgleitet, um ihm mit der pünktlichen Bücherzufuhr die ‚Quellenstudien‘ zu erleichtern – solch ein Wichtelmännchen, ja, das bin ich! ... Und wenn hier und da etwas an mir hängen bleibt von dem Geist und dem Wissen, das man dort gleichsam mit der Luft athmet, so ist das kein Wunder. Systematisch geordnet und

wirklich brauchbar aber ist das kunterbunte Chaos hier nicht“ –

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 142. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_142.jpg&oldid=- (Version vom 22.1.2020)